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Münchner Luft: Atmen kann tödlich sein
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Volker Becker-Battaglia liebt Autos. Und doch belastet ihn, was sie mit seiner Stadt anstellen. Denn aktuell macht die Münchner Luft krank. Becker-Battaglia wohnt an Münchens wohl dreckigster Straße und klagt vor dem Bundesverfassungsgericht für ein Recht auf saubere Luft.
Eigentlich wohnt Volker Becker-Battaglia in einem Traum: 240 Quadratmeter Altbau, weite Flure mit Dielenparkett, Balkon und das in bester Lage an der Landshuter Allee. Und doch flüchtet der 62-Jährige mit seiner Partnerin jede Woche von Donnerstag bis Sonntag aufs Land – wegen der Luftverschmutzung. Denn die Landshuter Allee, an der Becker-Battaglia wohnt, gehört zu den dreckigsten Straßen Deutschlands.
„Luftverschmutzung hat tödliche Folgen aber weil man sie nicht sieht, verdrängen die Menschen das total“, sagt Becker-Battaglia. Er selbst kann es nicht mehr ignorieren: „Wenn ich rausgehe und unten an der Ampel stehe, denke ich, ich falle tot um.“ Die Fenster zur Straßenseite hält er immer geschlossen. Wegen der Schadstoffbelastung versucht Becker-Battaglia so wenig Zeit in München zu verbringen, wie nur möglich. Jede Woche fährt er mit seiner Partnerin zwei bis drei Tage in ihre Zweitwohnung im Chiemgau – weil dort die Luft besser ist. Der erfolgreiche Filmproduzent kann sich das leisten. Viele Münchner*innen bleiben im Smog zurück. Wer an der Landshuter Allee einen Finger über eine beliebige Fassade streicht erntet Schwarz.
Die Wohnung an der Landshuter Allee war lange Becker-Battaglias Traumwohnung. Als junger Filmstudent war er auf einer Party bei einem Freund, der damals in der Wohnung wohnte. Becker-Battaglia war sofort begeistert. In einem Nebensatz habe er gesagt: „Wenn du mal ausziehst, ruf mich an.“ Und genau so kam es. Heute zieren die Wände Kunstdrucke. Gestapelte Magazine liegen herum. Es ist ein Wohnung, die noch viele andere Geschichten erzählen könnte.
Von Asthma bis Lungenkrebs
Doch außen auf der Fassade der Wohnung trübt eine dicke Schicht schwarzer Ruß das Bild. Die Traumwohnung ist für Becker-Battaglia immer mehr zum Albtraum geworden. Um die 150.000 Autos tuckern hier täglich unter Becker-Battaglias Wohnung entlang. Die Schadstoffbelastung mit Stickstoffdioxid übersteigt die gesetzlichen Vorgaben seit Jahren. 45 Mikrogramm Stickstoffoxid pro Kubikmeter wabern an der Landshuter Allee unsichtbar durch die Luft. Das liegt über dem gesetzlichen Maximalwert von 40 Mikrogramm. Die EU hat darüber hinaus kürzlich beschlossen, diesen Wert bis 2030 auf 20 Mikrogramm zu senken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt gar 10 Mikrogramm als Maximalwert, damit es gesundheitlich unbedenklich bleibt. Auch bei anderen Luftschadstoffen überschreitet München die Empfehlungen der WHO und kratzt an den zukünftigen der EU. Es müsste also, wenn man der WHO-Empfehlung folgt, noch über vier Mal sauberer an der Landshuter Allee werden, damit es nicht mehr gesundheitsschädlich wäre.
„Das kann natürlich auch Zufall sein, aber hier im Haus sind seit ich hier wohne fünf Menschen an Krebs gestorben“, sagt Becker-Battaglia. Eindeutig auf die Luftverschmutzung zurückführen kann man diese Fälle nicht. Aber: „Groß angelegte Studien zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Schadstoffbelastung und Lungenkrebs gibt“, sagt Professorin Annette Peters unserer Redaktion. „Auch wenn man es nicht im Einzelfall belegen kann, der Zusammenhang ist da.“ Peters ist Direktorin des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München. Wie sich Luftverschmutzung auf die Gesundheit auswirkt, ist einer der Schwerpunkte ihrer Arbeit. Dabei ist die Schadstoffbelastung an der Landshuter Allee zwar besonders extrem. Das Gesundheitsrisiko trifft jedoch die gesamte Stadt. Zwar sei außerhalb die Belastung niedriger, aber: „Im urbanen Raum sind wir alle betroffen“, sagt Peters, „und in den urbanen Hotspots findet ja auch das Leben statt“.
Lungenkrebs ist dabei nicht das einzige Gesundheitsrisiko für die Münchner*innen. Manche Schadstoffe setzen sich in den oberen Atemwegen ab, andere dringen ein bis tief in die Lunge. Laut Wissenschaftlerin Peters könne Luftverschmutzung bei Menschen mit Atemwegserkrankungen Asthma verursachen und Bronchitis verschlimmern. Sie könne die Lungenfunktion bei Kindern beeinträchtigen und führe zu einer erhöhten Sterblichkeit durch Lungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sowohl bei Langzeitbelastung als auch bei kurzfristiger hoher Belastung. Kinder würden tendenziell leichter und früher geboren. Auch Auswirkungen auf andere Organe, etwa das Gehirn und den Stoffwechsel seien belegt. Die Belastung treffe dabei nicht nur die Anwohner*innen. Auch auf dem Fahrrad und im Auto atmen die Menschen dreckige Luft, so Peters.
Annette Peters ist dabei wichtig zu betonen: „Luftschadstoffe sind ein komplexes Gemisch, sie hängen miteinander zusammen.“ Vor allem in den Außenbezirken an sonnigen Frühlings- oder Sommertagen reagiere etwa Stickstoffdioxid mit Kohlenwasserstoff und bilde Ozon.
Auf die Nachfrage, wie die Stadt das Gesundheitsrisiko bewertet, schreibt eine Sprecherin des Klima- und Umweltreferates:
Autos vor Gesundheit?
Um der Schadstoffbelastung beizukommen, strebte die Stadt München im sogenannten Luftreinhalteplan eine stufenweise Einführung eines Dieselfahrverbots an. In drei Stufen sollte das Fahrverbot kontinuierlich verschärft werden. Da die Stadt jedoch 2023 prognostizierte, dass auch an der Landshuter Allee die Grenzwerte eingehalten würden, setzte sie Stufe 2 aus und hob Stufe 3 ganz auf. Die neuesten Werte von 45 Mikrogramm stellen diese Prognose jedoch mindestens in Frage. Besonders bemerkenswert: Um die Messstelle an der Landshuter Allee haben das bayerische Umweltministerium und das Umweltreferat der Stadt Luftfilter aufgestellt. Sie wollen testen, wie effektiv derartige Filteranlagen sind. Gleichzeitig argumentiert die Stadt in einem Papier vom September 2023 mit verringerten Werten an der Landshuter Allee. Dabei sind diese womöglich auf die punktuellen Filter zurückzuführen und wenige Meter weiter schon wieder höher.
Die Stadt München äußert sich auf Anfrage dazu nicht konkret. Man habe noch keine abschließenden Ergebnisse zur Wirksamkeit der Filteranlagen, schreibt eine Sprecherin des Klima- und Umweltreferats. Die korrekte Durchführung der Messungen liege in der Verantwortung des bayerischen Umweltministeriums.
Robin Kulpa sagt dazu: „Die Luftfilter sind eine Absurdität: Man könnte auch einfach eine Plastiktüte über die Messstation stülpen, dann misst sie auch saubere Luft.“ Er spricht von einer „Pseudo-Lösung“, da die Grenzwerte trotzdem noch gerissen werden. Kulpa ist stellvertretender Bereichsleiter für Verkehr und Luftreinhaltung bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Die DUH klagt derzeit gemeinsam mit dem Verkehrsclub Deutschland gegen die Stadt München, um den Luftreinhalteplan und damit auch das urspünglich geplante Dieselfahrverbot durchzusetzen. Die Verhandlung findet am 14. März statt. Auch der urspüngliche Plan mit dem dreistufigen Fahrverbot war bereits aus einer Klage der DUH gegen die Stadt entstanden. In einem Vergleich einigten sich DUH und die Stadt München auf eben jenes Dieselfahrverbot, das München derzeit ausgesetzt und aufgehoben hat. Für die DUH ist München damit vertragsbrüchig. „Die Maßnahmen aus dem Luftreinhalteplan sind notwendig, um schnellstmöglich die geltenden Grenzwerte einzuhalten“ sagt Kulpa. Er sei optmistisch, dass das Gericht ihnen Recht gebe. Über das Urteil hinaus streitet die DUH für eine Einführung der Maximalwerte der WHO. Nur diese würden die Gesundheit wirksam schützen. „Alles darüber hinaus ist nachweislich gesundheitsschädlich“, sagt Kulpa. Wissenschaftlerin Peters sieht das ähnlich: „Aus reiner Gesundheitssicht sollte man die Empfehlungen der WHO umsetzen.“ Doch auch das, was die EU erarbeitet habe, sei schonmal ein riesiger Fortschritt zum Status Quo, findet Peters.
Das Umwelt- und Klimareferat schreibt zu den kommenden EU-Grenzwerten: „Um die für das Jahr 2030 vorgeschlagenen Richtwerte einhalten zu können, reichen die kommunalen Werkzeuge zur Luftreinhaltung, die lediglich lokale Emissionsquellen regulieren können, nicht aus.“ Die Sprecherin verweist auf die Verantwortung von Bund, Ländern und EU mehr Möglichkeiten für die Kommunen zu schaffen und die Belastung zu reduzieren. Zu den strengeren WHO-Empfehlungen, für die sich auch die DUH einsetzt, schreibt sie: Richtwerte seien Empfehlungen und wissenschaftliche Grundlage für rechtlich bindende Grenzwerte. In politischen Verhandlungsprozessen würde neben den gesundheitlichen Argumenten jedoch auch anderes berücksichtigt, zum Beispiel wirtschaftliche Aspekte und die technische Machbarkeit. Zum aktuellen Verfahren gegen die DUH äußert sich die Sprecherin nicht.
Die Kritik bezieht sich dabei nicht nur auf die Stadt. Am Mittwoch den 13. März veröffentlichte die DUH interne Akten aus dem bayerischen Umweltministerium. Nach DUH Lesart lasse sich den Akten entnehmen, dass die Bayerische Staatsregierung die Einführung eines Luftreinhalteplans mit Fahrverboten über die Jahre 2016 bis 2019 hinweg verschleppt hat. In einem Dokument von 2018 findet sich etwa die folgende Aussage zu Fahrverboten der damaligen oberbayerischen Regierungspräsidentin: „Das mag fachlich richtig sein, ist politisch aber nicht opportun.“ DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch sagt: „Die von uns enthüllten Akten belegen schwarz auf weiß: Die Saubere Luft in München und damit die Vermeidung von hunderten vorzeitigen Todesfällen und Tausenden an Erkrankungen wäre schon vor Jahren umsetzbar gewesen.“ Mittlerweile ist die Stadt München alleine für die Luftreinhaltung verantwortlich. Aktuell versucht die DUH an Akten der Stadtregierung zu kommen. Aus den bisher veröffentlichten Akten des Umweltministerium geht jedoch zumindest hervor, dass Oberbürgermeister Dieter Reiter 2016 noch der Ansicht war, Fahrverbote seien nicht umsetzbar. Auf Anfrage äußert sich der Oberbürgermeister nicht zu den Vorgängen aus den DUH-Dokumenten. Auch zur DUH-Klage zum Dieselfahrverbot will er sich erst nach Urteilsverkündung äußern.
Zurück in Volker Becker-Battaglias 240-Quadratmeter Traumwohnung. Er hat gerade die Balkontür geöffnet, um zu demonstrieren, wie neben der Luftverschmutzung auch der ständige Verkehrslärm belaste. „Die Autos machen die Städte kaputt“, sagt der 62-Jährige, „das ist das Gegenteil von Lebensqualität.“ Dabei ist Becker-Battaglia kein Auto-Gegner. Im Gegenteil: Er liebt Autos. Früher drehte er Werbefilme für Autohersteller. Er besitzt drei Autos und acht Motorräder, fährt gerne Porsche. Dennoch sagt er: „Wie verrückt die Leute an den Autos hängen, das hat schon eine Absurdität.“ Und: „Wenn die Leute im Urlaub in Städten wie Bologna oder Siena sind, wo die Innenstädte autofrei sind, dann schwärmen alle davon aber daheim fahren sie mit dem Auto zum Marienplatz.“
Auch Becker-Battaglia versucht es mittlerweile vor Gericht. Vor dem Bundesverfassungsgericht klagt er – ebenfalls mit der DUH und anderen – für ein Recht auf saubere Luft. Bis dahin verbringt er weiterhin so wenig Zeit wie möglich in seiner ursprünglichen Traumwohnung. „Die Belastung ist permanent im Hinterkopf“, sagt er. „Meistens verdänge ich es aber.“
Was kann München tun, um auch die Bürger*innen zu entlasten, die sich die Flucht in den Chiemgau nicht leisten können?
Eine schönere Zukunft ist denkbar
Wissenschaftlerin Annette Peters hat Ideen: „Man muss an allen Stellschrauben drehen, die man hat – Verkehr, Industrie, Hausbrand –, um den Feinstaub zu reduzieren.“ Der Verkehr gehöre reduziert und sauberer gemacht auch das Heizen müsse sauberer werden. Vor allem Einzelöfen belasteten dabei die Luft. „Wir brauchen erneuerbare Energien für saubere Luft – für unsere Gesundheit und gegen die Klimakrise“, sagt Peters.
Wie die Stadt den Gesundheitsschutz gegen das Bedürfnis, Auto zu fahren, abwägt, verrät das Umwelt- und Klimareferat auf Anfrage nicht. Eine Sprecherin schreibt lediglich, grundsätzlich sei das Recht auf körperliche Unversehrtheit gegen das Eigentumsrecht der Autofahrer*innen abzuwägen. Maßnahmen müssten verhältnismäßig sein.
Dass die umfassenden Maßnahmen nicht nur Verzicht bedeuten würden, zeigt ein EU-Papier, auf das die DUH verweist. Laut Schätzungen der Europäischen Kommission würde eine Umsetzung der strengen Grenzwert-Empfehlungen der WHO in der EU einen Nutzen von 123 Milliarden Euro erzielen. Dieser ergibt sich etwa aus eingesparten Behandlungen und Anpassungsmaßnahmen. Die Gesundheitssysteme und die öffentliche Infrastruktur würde entlastet, denn die Menschen wären weniger krank.
Über die Landshuter Allee rast unaufhörlich ein Strom von Autos. Laut Becker-Battaglia ist es verhältnismäßig ruhig. Und doch muss er rennen, um auf den etwa einen Meter breiten Grünstreifen am Rand der der Hauptspur zu kommen. „Die Landshuter Allee bricht zusammen“, sagt er. Dabei könnte es so einfach sein. „Wenn man einfach diese kleinen Dinge tun würde, für saubere Luft sorgen, für sauberes Wasser, dann braucht man über Klimaveränderung gar nicht mehr nachdenken.“
Update: Gerichtsurteil am 21. März
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Stadt München dazu verdonnert, schnellstmöglich Maßnahmen zu ergreifen: Die Grenzwerte für Stickstoffdioxid müssten zuverlässig unterschritten werden. Die Stadt habe zwar Ermessensspielraum bei den Maßnahmen. Weitergehende Dieselverfahrbote sah das Gericht aber als nötig an. Oberbürgermeister Dieter Reiter hatte sich dazu im Vorhinein schon positioniert. Reiter bevorzugt ein streckenbezogenes Fahrverbot, also nur auf einzelnen Straßen. Das sei verhältnismäßiger. Das Gericht sieht das anders. Es gibt in der Urteilsbegründung zu bedenken, dass ein streckenbezogenes Fahrverbot von Dieselfahrzeugen mit Euro 5 und schlechter nur in Kombination mit dem bereits geltenden flächendeckenden Verbot von Euro 4 und schlechter wirksam genug wäre. Das erschien dem Gericht jedoch als komplizierter und schwerer umsetzbar.
Jürgen Resch Geschäftsführer der DUH ist zufrieden mit dem Urteil. “Es sterben in München jedes Jahr Hunderte Menschen vorzeitig durch Stickstoffdioxidbelastung”, sagt Resch. München sei die Stadt mit der schmutzigsten Luft Deutschlands. “Das muss ein Ende haben.”
Beitragsbild: Jacek Dylag // Unslplash