Aktuell, Kennen wir uns?, Kolumnen

Kennen wir uns? Never ending Outing

Carina Eckl

Letztes Jahr habe ich die Neuauflage der kanadischen Serie Degrassi angeschaut, in der sich eine Person bei ihrem Freund outet. Sie fühle sich in ihrem Frauenkörper irgendwie nicht so wirklich wohl – in Jungsklamotten wäre sie näher bei sich selbst. Seine Reaktion: „Ja, aber was sagt das über mich aus?“

Für mich war seine Aussage komplett unverständlich. Dass es für sein Gegenüber unangenehm und nervenaufreibend war, sich ihm zu öffnen, war offensichtlich. Warum konnte er nicht für einen Moment seine eigenen Gefühle zurückstellen? Seine Reaktion bringt ein Kernthema von Diskriminierung für mich perfekt auf den Punkt.

Ich bin ein Mann, ich bin hetero, du bist eine Frau. Aber was, wenn du keine Frau mehr sein willst? Bin ich dann auch kein Mann mehr?

Ich will meiner Familie nicht sagen, dass mein Freund trans ist, weil sie dann denken könnte, ich wäre lesbisch.

Du bist schwul. Ich bin mit dir befreundet. Was ist, wenn andere denken, dass ich auch schwul bin? Vielleicht schließen sie mich dann aus!

Angst vor dem Außenseiter(tum)

Jede*r von uns ist Teil dieser Gesellschaft. Und eigentlich steht niemand für sich allein. Die Menschen, mit denen wir uns umgeben, sagen auch etwas über uns aus. Wenn mir jemand sagt: „Dein Freundeskreis ist aber divers“, denke ich mir: Ja, stimmt. Ich finde es toll, dass meine Freund*innen sie selbst sind und das auch zeigen. Aber anderen macht diese Aussage vielleicht Angst, weil sie befürchten, selbst zum Außenseiter zu werden, wenn ihre Freund*innen gesellschaftlich so wahrgenommen werden. So haben es die meisten von uns schon in der Schulzeit erlebt.

Es ist verständlich, Angst davor zu haben, aus der Reihe zu fallen und sich davor schützen zu wollen. Aber sollte es dann nicht umso verständlicher sein, dass ein Coming Out nicht einfach ist, weil man in unserer Gesellschaft damit automatisch aus der Reihe fällt? Dass es wahnsinnig viel Energie kostet, anzusprechen, dass man trans ist.

‚Anders‘ sein ist kein Teilzeitjob

Betroffene müssen sich nicht nur einmal outen, sondern immer und immer wieder. Ein Coming Out ist keine einmalige Sache. Ein Mensch ist er selbst und zwar ein Leben lang. Diee Geschlechtsidentität gehört immer dazu. Das bedeutet, sich immer verletzlich zu machen, ohne Pausen. ‚Anders‘ sein ist kein Teilzeitjob.

Ein Freund* erzählte mir davon, dass es für ihn immer wieder schwierig sei, auf neue Menschen zu treffen. Wenn er beispielsweise bei Studienexkursionen teilnimmt, fragt er sich: „Soll ich mich als trans outen oder überfordere ich andere damit? Habe ich die Aufgabe, mich zu outen, damit das Thema normalisiert wird?“ Gemeinschaftsduschen seien sein persönlicher Horror. Im Freibad fragt er sich, ob man sehe, dass er keinen Penis hat und Narben auf der Brust. Fragen über Fragen. Damit wird eine Situation, die für andere banaler Alltag ist, zur Herausforderung.

Vor einem Coming Out fange er immer noch an zu zittern, erklärt mir ein anderer Freund*. Ich fragte nach, wovon das ausgelöst wird. „Adrenalin? Vielleicht weil ich mich unterbewusst bereit mache, zu fliehen… oder ‚anzugreifen‘?“ Warum? Um sich zu schützen, vor verbalen oder physischen Übergriffen, vor intimen Fragen oder bevormundenden Unterstellungen. In unserer Gesellschaft wird suggeriert, dass es krank sei oder belustigend oder ‚unchristlich‘, einfach grundlegend falsch, wenn man sich nicht mit seinem biologischen Geschlecht identifiziere. Es wird gefragt, ob das heilbar sei.

Teufelskreis im TV 

Man muss nicht einmal eine schlechte Coming Out-Erfahrung gemacht haben –  es reicht schon, wenn man den Fernseher anmacht. Dort sieht man bemitleidenswerte trans Menschen, die an AIDS sterben oder zu Mordopfern werden, weil sie nun mal von der Gesellschaft gehasst werden. Oder psychisch kranke trans Menschen, die jemanden umgebracht haben und deshalb in der Psychiatrie sitzen.

Ein Coming Out ist vorbelastet, wenn man in den Medien fast ausschließlich als Mörder oder Opfer dargestellt wird. Die Fernsehindustrie denkt sich: So ist das halt, gewöhnt euch dran. Dazu kommt, dass ein Teufelskreis in Gang gesetzt wird, wenn man das Coming Out selbst in Medien nur als katastrophales Erlebnis darstellt, bei dem Betroffene nur leiden können. Ohne mediale Positivbeispiele gibt es nichts, woran man sich orientieren könnte. So kann sich nichts verändern.

J.K. und das Patriarchat

Letztes Jahr hat J.K. Rowling der medialen Debatte über Transsexualität noch die Kirsche auf’s Sahnehäubchen gesetzt. Die Autorin, die unsere Kindheit geprägt hat, äußerte, dass trans Frauen keine ‚echten‘ Frauen wären.
Aber manche Menschen identifizieren sich nicht als Mann, auch wenn ihnen dieses Geschlecht bei ihrer Geburt zugewiesen wurde, sondern als Frau. Und andersrum.

Jede*r von uns kennt eine Situation, in der uns Eigenschaften zugeschrieben werden, die überhaupt nicht zu uns passen, oder in denen andere unser Leben bestimmen wollen, ohne unsere Zustimmung. Das ist ein furchtbares Gefühl. Für Menschen gibt es wahrscheinlich nichts Schlimmeres, als ihre Freiheit einzuschränken.

Eine Frau ist und bleibt trotzdem eine Frau, laut J.K. Rowling. Warum hat sie es dann zugelassen, dass ihr Name zu J.K. abgekürzt wurde, wenn sie doch anscheinend Feministin ist? Dahinter steht die Einschätzung ihres Verlags, dass sie als angeblicher Mann (und nicht auf den ersten Blick weibliche Autorin) mehr Erfolg mit ihrem Buch über Harry Potter hat – der übrigens auch männlich ist. So ist das Patriarchat halt, denkt sich J.K. und wettert fröhlich über trans Frauen.

Ist Diskriminierung eine Meinung?

Wenn ich an ihre Einstellung zum Feminismus denke, sehe ich folgendes Meme vor mir:

Lehrer*innen würde schreiben: Sinn???? Simone de Beauvoir dreht sich im Grab um und meine Freund*innen denken sich bestimmt nicht: „Die ganze Welt ist gegen mich plus J.K. Rowling, meine Kindheitsheldin, yay, jetzt erzähle ich allen, dass ich trans bin!!“ BBC wollte auch etwas zur Fiasko-Torte beitragen und nominierte J.K. Rowlings transfeindliches Essay mit dem Totschlagargument „Meinungsfreiheit!!!“ für einen Award. Sie geben ihr einen Preis für eine Meinung, die andere verletzt, diskriminiert und ihnen ihre Existenz abspricht.

J.K. Rowling darf eine Meinung haben, so wie jede*r andere auch. Das Problem ist, dass Diskriminierung keine Meinung ist, die etwas zu einer Debatte beiträgt oder jemandem hilft. Wenn sie einfach zugehört und sich nicht nur verteidigt hätte, wäre vielleicht ein klärender Dialog mit trans Menschen entstanden. Dadurch wäre beiden Parteien geholfen. Extreme Fronten entstehen dort, wo man in seinen eigenen Vorurteilen schmort und nicht miteinander spricht.

Wir wollen alle die Freiheit, wir selbst sein zu dürfen

Warum nutzt jemand überhaupt seine Energie dafür, andere zu diskriminieren? Ich denke, wir werden durch andere auf uns selbst zurückgeworfen. Diskriminierung ist emotional und hängt oft mit den eigenen Ängsten und Unsicherheiten zusammen. Das Problem ist, dass der eine seine Zeit verwendet, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, in dem er andere beleidigt und anfeindet. Während die anderen sich ständig dagegen wehren müssen.

Wer trägt die Konsequenzen von Diskriminierung? Die Menschen, die das verkörpern, was andere unsicher macht. Wenn Geschlechtsidentität von der Norm abweicht, verschwimmen die Grenzen, durch die sich manche Menschen definieren. Das ist ein Grund, warum sich meine Freund*innen immer und immer wieder outen müssen. Weil unsere Gesellschaft noch nicht verinnerlicht hat, dass nicht jeder einem Standard entsprechen muss, der durch Medien und traditionelle Geschlechterrollen vermittelt wird.

Mit Normen schränkt jede*r von uns andere, aber auch sich selbst, ein. Wenn ich beispielsweise die ideale Frau sein muss, habe ich gar keine Zeit mehr dafür, herauszufinden, wer ich eigentlich für mich selbst sein will.  Aber wir wollen doch alle die Freiheit, wir selbst zu sein, oder?

Sich öffnen und offen sein

Es ist wichtig, dass Menschen Fehler machen dürfen. Nur so können wir lernen, besser auf andere einzugehen und unsere Gesellschaft voranzubringen. Ich mache auch Fehler. Während ich diesen Artikel schreibe, bin ich bei jedem dritten Satz unsicher, ob ich etwas verletzend oder inkorrekt formuliere.

Meine Freund*innen sagen mir, es wäre in Ordnung, Fehler zu machen. Auch innerhalb der queeren Szene sei man sich über manche Formulierungen uneinig. Obwohl ich mich schon länger mit dem Thema beschäftige, erweitern sie mit ihren Kommentaren immer wieder meinen Horizont.

Was kann ich also tun, um anderen das Coming Out leichter zu machen? Darüber habe ich stundenlang mit einem Freund* diskutiert. Letztendlich merkten wir, dass es keine pauschalen Regeln gibt. Man kann es nicht immer ‚richtig‘ machen. Warum? Weil jede*r von uns anders ist. Jede*r braucht eine andere Reaktion.

Ein anderer Freund* sagte mir, dass man Menschen anmerke, ob sie authentisch reagieren. Das Wichtigste sei, dass man ehrliches Interesse zeige und versuche, sich auf den anderen einzulassen. Es könne auch helfen, die eigenen Pronomen (she/her, he/him, they/them) in die Instagram-Bio zu schreiben. Dadurch werde das Thema Geschlecht normalisiert und die Hemmschwelle für Betroffene geringer, ihre Pronomen öffentlich zu machen. Eine Veränderung kommt dann, wenn wir offener über Geschlecht sprechen. Was wir wirklich brauchen ist ein positiver, respektvoller Dialog und kein gegenseitiges Schuldzuschieben. Der Schlüssel ist, offen zu sein. Dann fällt es anderen auch leichter, sich zu öffnen. 

Beitragsbild: Unsplash/Emiliano Vittoriosi

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