Kultur, Live, Nach(t)kritik

Stell dir vor du bist blind – aber nicht taub

Markus Michalek

Was wäre, wenn Du unvermittelt nichts mehr siehst, nicht einmal die Hand vor Augen? Auf einem Holzstuhl sitzend, mit dreißig anderen Menschen? Ein Selbstversuch im Puerto Giesing.

Etwa 70 Prozent unserer Wahrnehmung geschieht im Regelfall über das Auge. Blindprobe / Blind by Design – concert in the dark schaltet für ein paar Stunden dieses Sinnesorgan aus und die Münchner Ska-Punk-Band Destination Failure liefert den passenden Sound.

Als wäre ein Ska-Punk-Konzert, akustisch natürlich, nicht schon eine Ausnahme genug. Nein, auch noch im Sitzen, trotz definitiv tanzbarer Musik, vor allem aber: ohne zu sehen. Keine Musiker, kein Bühnenbild in Sicht. Die Hand vor Augen, den oder die Nachbarin nicht zu sehen, höchstens zu fühlen, aber auch das nur vage, sich selbst überlassen mit der Klangfülle. Raten, welche Stimme welchem Musiker gehört, raten, wieviele (teilweise tatsächlich blinde, nichtsdestotrotz gute) Musiker auf der Bühne eigentlich stehen und einen erstklassigen Oldschool-Ska abliefern. (Sax, Posaune, Gitarre und Bass, in einer wunderbaren Kombination) Da geht schon mal ein Akkord daneben, da wird schon mal nachgefragt, ob man denn im richtigen Bund ist, da wird postuliert, man würde nackt spielen, was den Umständen entsprechend ja egal sei – unprogrammiertes Chaos und Punk in Reinform. Ein Erlebnis für sich und das erste Mal, dass etwas derartiges in München stattfand.

Die Stimmung im längst legendären Puerto Giesing ist eigentümlich gut, auf eine sicherlich nicht alltägliche Art. In der kurzen, obligatorischen Bier und Zigarettenpause entweder gelöste, lächelnde Gesichter, oder skeptische Blicke im Publikum zwischen zwölf und sechzig. Dunkelheit ist eben nicht jedermanns Sache. Empfehlenswert ist eine Veranstaltung wie die gestrige Blindprobe/blind by desgin – concert in the dark aber allemal – und wenn man genau beobachtet, dann überwiegt das Lächeln.

Vielleicht auch neben dem außergewöhnlichen Setting des Abends ein Verdienst der “Bühnenshow”, denn wenn eines immer funktionieren kann, egal ob sehend, oder nicht, dann der Humor des gesprochenen Wortes.

Davon hatten Destination Failure genug im Repertoire. Den eingefleischten Punkfan und Veranstalter Florian Deroubaix dürfte das Feedback des Publikums freuen  – und wir Münchner dürfen auf weitere gelungene und einmalige Abende wie gestern hoffen. Möglicherweise am 23. August, wieder in der Kantine von Puerto Giesing.

Nachtrag I: da es keinen Sinn macht, im Dunkeln zu fotografieren, soll für diesen Artikel auf jegliches Bildmaterial verzichtet werden.

Nachtrag II, subjektiv: Es gibt sowieso genug Menschen, die nicht mehr zuhören können. Man sollte es dennoch versuchen und seine Grenzen verschieben – ein Abend wie gestern bleibt noch lange im Gedächtnis haften.

Nachtrag III: Blindproben dienen im Allgemeinen der Ausbildung “vernachlässigter” Sinne. Weinproben im Dunkeln, etc., die Liste ist lang, das Hören als Sinn nun endlich dazugekommen.

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