Aktuell, MUCBOOK Print

Aus unserem Heft: Trend alkoholfrei? – Warum Jugendliche weniger trinken

MUCBOOK Magazin

Immer weniger junge Menschen trinken regelmäßig Alkohol. Ist diese Generation gesundheitsbewusster? Langweiliger? Oder aufgeklärter? Eine Antwortsuche auf einem dunklen Parkplatz in München und an einer Hochschule in der Schweiz.

Mit Zeigefinger und Daumen nimmt Em das Teelicht und lässt es in ein leeres Marmeladenglas fallen. Über fünfzehn Lichter hat sie angezündet und auf dem Parkplatz vor dem Münchner Rosengarten verteilt. Hier ist alles provisorisch, aber sehr liebevoll gestaltet: Der umgebaute Van, aus dem laute Techno-Musik dröhnt. Die selbst gebastelten Mobiles, die als Dekoration an einer Leine baumeln. Zwischen zwei Bäumen ist eine große Plane aufgespannt, falls der große Regenschauer doch noch kommt. Bis jetzt nieselt es nur. Es ist Ende September und erstaunlich warm nach dem plötzlichen Kälteeinbruch ein paar Tage zuvor. Während die ersten Gäste eintrudeln, spricht Em mit Freund*innen und tanzt zur Musik. Sie hat hier alles, was sie für eine gute Party braucht: Menschen, die sie zur Begrüßung umarmen. Bass, der in der Brust wummert. LED-Lichter, die die Nacht in allen Farben erleuchten. Was nicht dabei ist: ein Bier oder ein anderes alkoholisches Getränk in der Hand. Und das ist für Em genau richtig so.

Der Alkoholkonsum von jungen Menschen sinkt. Und zwar signifikant.

Das hat die jüngste Befragung der Bundeszentrale für gesellschaftliche Aufklärung ergeben. Von über 7.000 Befragten gaben nur 8,7 Prozent der Jugendlichen an, regelmäßig Alkohol zu trinken. Das ist die niedrigste Quote seit Beginn der Befragungen Ende der 70er-Jahre. Damals waren es noch mehr als dreimal so viele Jugendliche. Unter jungen Erwachsenen zeichnet sich ein ähnlicher Trend ab: In den letzten 50 Jahren hat sich der regelmäßige Alkoholkonsum in dieser Altersgruppe um mehr als die Hälfte reduziert. 

Em ist vor einigen Jahren fürs Studium nach München gezogen. Die 23-Jährige trägt eine lockere Hose und einen gestreiften Pullover mit Taschen, in die sie häufig ihre Hände versenkt. Sie hat eine sanfte, warme Stimme. Beim Thema Alkohol wird sie nachdenklich. Früher habe sie viel getrunken. Bis sie mit einer Person zusammenkam, die keinen Alkohol trank. Da fing auch Em an, ihren Konsum zu hinterfragen. „Wieso ist Alkohol so eine normalisierte Droge? Wo setzt man die Grenze? Was ist normal, was nicht? Das hat mir einen Gedankenanstoß gegeben“, sagt Em. 

In dem Moment nähern sich von hinten Schritte. Es ist spät, die Straßenlaternen leuchten längst. Dennoch ist die Nacht dunkel. Em dreht sich um – ein kurzer, prüfender Blick über ihre rechte Schulter. Ein Mann mit kurzgeschorenen Haaren, Lederhosen und Filzjacke stolpert auf sie zu. Er taumelt, rempelt gegen Em und entschuldigt sich. Seine Worte fließen ineinander. „Oh, sch…schuldigen Sie, entschuldigen Sie“, nuschelt er. „Passt schon, alles gut“, sagt Em in ihrer sanften Art. Der Mann stolpert weiter, spricht andere Passant*innen an. Die schauen weg. Em blickt dem Betrunkenen hinterher. „So was schockiert mich dann auch immer, dass ich denke: So was brauche ich jetzt nicht“, sagt sie. Warum Em fast nie trinkt? „Meine Hauptmotivation ist der Sport“, antwortet sie und berichtet davon, wie sie ihre Leistung nicht durch Drogen kaputtmachen will – weder durch Alkohol, noch durch andere Substanzen. 

„Alkoholkonsum ist weniger sexy geworden“

So geht es aktuell vielen jungen Menschen. „Megatrend Gesundheit“, nennt Simone Gretler Heusser das. Sie ist Dozentin am Institut für soziokulturelle Entwicklung in Luzern und kennt sich aus mit Generationen-Trends. „Der Anspruch, fit und gesund zu sein, ist bei den jungen Menschen gestiegen“, sagt die Sozialanthropologin. Dazu komme, dass die gesellschaftliche Akzeptanz sich verändere. „Alkoholkonsum ist weniger sexy geworden“, sagt sie.

Ein Wochenende vor etwa zehn Jahren in München… Marie, die in Wirklichkeit anders heißt, ist auf einer Party. Die Menschen um sie herum sind schon gut betrunken. Alle, außer sie, die damals noch Schülerin ist. Wie gewohnt ist sie bei Wasser, Saft und Limonade geblieben. Plötzlich läuft eine Bekannte auf sie zu und drückt ihr entschlossen einen Plastikbecher in die Hand. Eine billige Mische, Wodka und Saft. Während Marie perplex dasteht, schiebt die Bekannte mit Gewalt das Getränk an ihre Lippen. 

„Das geht überhaupt nicht!“, sagt Marie heute. Die 25-Jährige trinkt länger schon gar keinen Alkohol mehr. Er schmeckt ihr nicht. Sie kann dann nicht schlafen. Sie bekommt Sodbrennen und hält den Kontrollverlust nicht aus. Gute Gründe gegen den Konsum. Und sie fühlt sich wohl mit ihrer Entscheidung. Dennoch wird sie ständig hinterfragt. Wie an jenem Abend, an dem die Bekannte sie zum Trinken zwingen will. „Bei mir geht es ja nur um eine Haltung. Aber was, wenn ich eine Allergie habe? Religiöse Gründe?“, fragt Marie. „Das ist einfach respektlos“, sagt sie.

Weil online viel weniger Gesetze und Grenzen gelten, sehnt sich die Jugend nach Regeln im Analogen

Religion sei sicher auch ein Grund für den geringeren Alkoholkonsum, meint Rüdiger Maas. Er ist Gründer und Vorstand des Instituts für Generationenforschung. Doch laut dem studierten Psychologen sei ein ganz anderer Punkt ausschlaggebend: Weil online viel weniger Gesetze und Grenzen gelten, sehne sich die Jugend nach Regeln im Analogen. Er wagt eine Prognose: „Der Alkoholtrend wird weiter zurückgehen, weil immer mehr Leben im Digitalen stattfindet und es deshalb weniger analoge Trinkmöglichkeiten gibt.“

Em braucht keine Ablenkung durch die digitale Welt. Während des ganzen Abends schaut sie nicht einmal auf ihr Handy. Zwar nutze sie ab und zu soziale Medien, aber „in Gesellschaft von anderen Personen bin ich nahezu nie am Handy“, sagt Em. Es sei für sie nur noch ein Gebrauchsgegenstand. Damit ist Em die Ausnahme: In einer Befragung des Statistischen Bundesamtes geben über 90 Prozent der 14- bis 24-Jährigen an, mehrmals die Woche soziale Medien zu nutzen. Laut der Sozialanthropologin Simone Gretler Heusser hat das einen Einfluss auf den Alkoholkonsum: Soziale Medien erleichtern die Bildung von kleinen Szenen, in denen man dann entweder sehr achtsam lebt, gar nicht konsumiert oder ganz andere Drogen bevorzugt. „Und man kann heute viele Substanzen online bekommen, die man früher nicht oder nur schwer erhalten hat“, sagt sie. 

Marie ist nach ihrem Studium in München für ihren ersten Job in eine andere Stadt gezogen. Nach drei Monaten im neuen Umfeld kam der erste gemeinsame Ausflug. Teambuilding. Schnell muss sich Marie outen: Sie trinkt nicht. Mit der Information beginnt die Fragerei, die Marie nur zu gut kennt. „Warum denn nicht?“, will eine Kollegin wissen. „Probier doch zumindest mal! Mach doch mal mit“, sagt der Chef. Marie bleibt bei ihrer Haltung, doch auch die Fragen der anderen bleiben. Beim nächsten Ausflug, der nächsten Feier: „Ständig muss ich mich erklären, ständig treffe ich auf Unverständnis“, sagt die 25-Jährige. „Ich bin inzwischen charakterstark und alt genug, um mich darüber hinwegzusetzen.“ Aber was ist mit denen, die dem Druck nicht standhalten können? Sozialer Druck, die Angst, etwas zu verpassen – wird das weniger? Kann die junge Generation besser Nein sagen? Oder ist sie einfach mit anderen Dingen beschäftigt? 

Die Zahl psychischer Erkrankungen steigt – auch unter jungen Menschen

Denn da wäre noch das Problem mit der mentalen Gesundheit. „Ich habe noch nie von jemanden gehört, der gesagt hat: Super, Jugendliche trinken weniger Alkohol, wir haben kein Problem mehr“, sagt Simone Gretler Heusser. Die Zahl psychischer Erkrankungen steigt – auch unter jungen Menschen. Besonders Depressionen haben während der Pandemie bei Jugendlichen zugenommen. 

Alkohol? Kenn dein Limit. Poster der Kampagne hingen zwischenzeitlich in vielen Clubs und an Bushaltestellen. Könnte es sein, dass Präventionsarbeit heute erfolgreicher und präsenter ist als früher? Die Expert*innen sind sich da nicht so sicher. „Die Präventionsarbeit kann mal Glück haben und gerade auf einem gesellschaftlichen Trend mitschwingen“, sagt Simone Gretler Heusser. Sie glaubt, dass Präventionsarbeit einen Beitrag leistet, weil sie „nicht nur Schuld zuweist, sondern auch Alternativen aufzeigt“. Rüdiger Maas ist anderer Meinung. Er sagt: „Präventionsarbeit ist scheiße. Richtig scheiße.“ Entscheidend sei, wie und mit welcher Intensität die Auswirkungen von Alkohol vermittelt würden. „Aufklärung und Transparenz ist enorm wichtig, wenn ich aber Dinge übertrieben und verängstigend darstelle, kann der Schuss nach hinten losgehen“, so Maas. Häufig entstehe so eine Haltung bei jungen Menschen, dann erst recht Alkohol zu trinken, wenn Kampagnen unglaubwürdig rüberkommen.

Und was sagt die Jugend selbst? „Es kommt einfach immer mehr, dass man sich mit Themen auseinandersetzt, die in der Welt passieren“, sagt Em. „Durch Fridays for Future ist es auch ein bisschen in, sich mit Politik auszukennen“, fügt sie hinzu. Em glaubt, dass durch die vielen Diskussionen, die generationsübergreifend stattfinden, junge Menschen achtsamer werden. Vielleicht ist es also eine kleine Neben-Rebellion, auch auf Alkohol zu verzichten.

Diesen Artikel und viele Weitere findest du übrigens in unserem aktuellen Printheft zum Thema Gesundheit und Wohlbefinden. Gedruckt und fein gestaltet auf 100 Seiten. Hier ganz bequem bestellen bei uns im Shop.


Text: Leonore Winkler

Illustrationen: © Amelie Lihl

1Comment
  • Marc
    Posted at 16:02h, 24 November

    Ich bin zudem der Meinung, dass es mir keinen Nutzen bringt, wenn ich morgens mit einem Kater erwache und schon der halbe Tag an mir vorübergezogen ist. Es gibt heute viele alkoholfreie Alternativen, die genauso gut oder besser schmecken und die man länger genießen kann.

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons