Kultur, Stadt

Wer hat Angst vor morgen?

Tini Kigle
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Wie viele Nächte dürfen wir noch schlafen, wenn 2012 die Welt untergeht? In welcher Zukunft werden wir leben und wie hängt sie mit dem Jetzt zusammen, fragen Chris Kondek und Christiane Kühl in  “Ãœbermorgen ist zweifelhaft // 2012”, das am Mittwochabend in den Kammerspielen Premiere feierte. Eineinhalb Stunden sprühende Gegenwart.

morgen

Kein luzides Wesen glaubt an (s)eine Zukunft, es sei denn mit Hilfe von vererbten Vorstellungen, erklärt einer der beiden „Grauen Herren“ auf der Bühne. Stimmt: Für morgen und übermorgen haben wir noch bezeichnende Begriffe, aber bereits für den Tag darauf fehlen uns die Worte. Stimmt nicht, weil: Was sind wir mehr als „vererbte Vorstellungen“? Und was spielt das überhaupt für eine Rolle, wenn wir 2012 eh mit Mutter Erde untergehen?

„Der Countdown ist angezählt“, so einer der „Grauen Herren“ leitmotivisch für den Abend.

Übermorgen ist zweifelhaft // 2012 ist das neue Projekt von Chris Kondek und Christiane Kühl, das am Mittwochabend in den Kammerspielen Premiere feierte. Im Kalender der „Langen Zählung“ der Mayas endet nach 1.872.000 Tagen der Schöpfungszyklus – das wäre am 21. Demzember 2012. Also was tun?

Nennen wir die „Grauen Herren“ Mr. Black, weil schwarzer Anzug (René Dumont) und Mr. White, weil weißer Anzug (Walter Hess). Zusammen mit la femme (Lena Lauzemis) – rote Lippen, aufgemalter schwarzer Schnurrbart, Fellmütze, könnte einem James-Bond-Film entsprungen sein – scheinen sie ausgesandt, Meister Hora aufs Neue herauszufordern.

Sie bespielen Pinzetten- und Pipettenlabortische, lassen sich live in gedrehte Videos beamen und erobern das Röntgenoval als Kulisse. Sie basteln am gehirneigenen LSD und induzieren einander Erleuchtung, verschalten Sprachzentren und die sechs Grundgefühle so miteinander, dass der Traum von der Verschmelzung gelingt und sagen als Semicomputerwesen: „Sei nicht gemein, noch bin ich verletzlich.“

Sie operieren sich ein drittes Ohr ans Handgelenk und einen Mikrochip zwischen die Schneidezähne, damit in das Ohr hinein zum Sensor hinauf durch sie gesprochen werden kann. Sie prophezeien die Apokalypse, „der Countdown ist angezählt“.

Sie sind hysterisch, panisch, verkünden eine „ontologische Unruhe“ und sehen im Stranden der Wale ein Zeichen. Sie führen Evidenzbeweise, argumentieren logisch-rational, glauben nicht an die Teleologie der Geschichte, sondern an die exponentiell verlaufende Geschichte, an die Geschichte als Hurrican. Sie geben Schläuche durchs Publikum, um die Funktionsweise des Teilchenbeschleunigers Cern zu veranschaulichen. Und das, während die Interviewpartner auf der Leinwand von Briefen erzählen, die sie an Angela Merkel schicken, damit die – schließlich auch Physikerin – bittebitte die eigene Weltuntergangstheorie widerlegen möge. Sie veröffentlichen Post an Ahmadinedschad mit der Bitte, die Atompläne des Westens zu kritisieren und fordern neben Menschen- und Tierrechten auch Rechte für Maschinen mit Bewusstsein.

Im Ausmalen dieser Untergangsfantasien sind Mr. Black, Mr. White und la femme den „Grauen Herren“ ähnlich: Wenn die eigene Angst eine Geschwindigkeit erreicht, der man nur hinterher hecheln kann, dann wirft man ihr die eigene Zeit in den Rachen.

Weil der Morgen nie stirbt, gehören das Fabulieren und Fantasieren einer zukünftigen Welt zu den ältesten Geschichten, die wir im Repertoire haben. Ob da nun Thomas Morus den Nirgend-Ort entwirft oder Aldous Huxley die schöne neue Welt erschreibt: Utopie und Dystopie sind die eskapistischen Inseln unseres Schwärmens, Grübelns, Kritisierens. Wer hat’s erfunden? Schuld daran sind die Schlange, der Apfel und Eva: Hat nicht sie mit ihrem Hunger nach Wissen vom Baum der Erkenntnis genascht und damit die Vertreibung aus dem Paradies provoziert? Und war nicht auch das die Spur, der Faust folgte, wenn er verlangt: Ich weiß viel, doch möcht’ ich alles wissen!“?

Mr. Black und Mr. White, Ying und Yang, „Aussterben oder Transzendenz“, so die Frage eines „Grauen Herren“: Schubladen, die uns die Orientierung erleichtern oder sie uns erst ermöglichen. Und ein Theaterabend an den Kammerspielen, der uns voll mit Ideen, mit Fantasie und mit Wissens- und Lebenshunger einen heftigen Windstoß Jetzt spüren lässt.

Vielleicht könnte man noch sagen, dass uns unsere Ideen, Sehnsüchte, Ängste für die Zukunft womöglich mehr über unsere Gegenwart erzählen, als über das tatsächliche Ãœberübermorgen. Und vielleicht müsste man daraus schließen, dass es kein luzides Wesen gibt, das ohne eine Vorstellung vom Morgen leben kann, weil der Tod sich schlicht nicht denken lässt. “Ich will nicht durch mein Werk unsterblich werden”, sagt Woody Allen, “ich will unsterblich werden, indem ich einfach nicht sterbe”. Oder: „Solang es den Tod gibt, ist niemand frei“, so ein „Grauer Herr“.

Quod non est demonstrandum.

Nächste Vorstellungen: 6.3., 10.3., 12.3.

Foto: Arno Declair

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