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„Willkommen im Millionendorf“: Was ist dran am Provinz-Image Münchens?

Berlin ist Metropole, Hamburg ist das Tor zur Welt – München gilt bis heute als beschauliches Millionendorf. Woher kommt diese Selbstverzwergung der am dichtesten besiedelten Stadt Deutschlands, die mehr Einwohner zählt als Marseille, Oslo oder Prag? Ein Streifzug durch München mit der langjährigen Wiesn-Chefin Gabriele Weishäupl, dem Architekten Peter Haimerl und der Kulturhistorikerin Anna Kurzhals.

Freitagmorgen, 11 Uhr. Der Neu-Münchner läuft über den Marienplatz, vorbei an staunenden Spaniern, Amerikanern und Chinesen mit Nackenstarre, die auf das Glockenspiel warten. Er schlendert weiter zum Viktualienmarkt – und glaubt sich plötzlich auf dem Dorf: Vor ihm der Maibaum, vom Gemüsestand „Kraut & Ruam“ schallt der Kilopreis für Grünen Spargel, mit rollendem „R”. Am Stand daneben: griechische Kalamatapaste, Muhammara, sonnengetrocknete Tomaten. Hier mischen sich Knödeldampf und Bierdunst mit Gerüchen aus aller Welt. 

Die Münchner Dreifaltigkeit

Schon 1964 schrieb der Spiegel von einem „Mixtum von Urwüchsigkeit und Urbanität”, vom „’Millionendorf’ […] als Metropolis”. Auch knapp sechzig Jahre später hat sich daran wenig geändert. Doch woher kommt dieses Image von München als Ort, der changiert zwischen Provinz und Metropole, Tradition und Moderne? Woher dieses Selbstbild als beschaulicher Gegenentwurf zum Großstadtleben in Berlin oder Hamburg?

Anruf bei einer Frau, die es wissen muss: Gabriele Weishäupl war fast dreißig Jahre lang Münchens Tourismus-Chefin, hat Bier und Blasmusik nach Taiwan und Tokio gebracht – und die halbe Welt hier her zur Wiesn. Schon beim ersten Kontakt müssen sich die Reporter einer Prüfung unterziehen: Drei Marken würden München in der Welt repräsentieren, sagt Weishäupl am Telefon. „Und welche sind das?“ Das Oktoberfest. Der FC Bayern. Und BMW. „Richtig!“, die Chefin ist begeistert, Test bestanden. 

„Dörflich ist eine Emotion, die hier schwingt in der Stadt“, sagt Weishäupl. Das Besondere sei, dass Stadtteile wie Schwabing, Bogenhausen und Giesing mitunter ihr Eigenleben bewahrt haben. Und diese lokalen Identitäten mischen sich mit der Weltstadt, mit dem Begriff Millionendorf kann sie trotzdem nicht viel anfangen: „Ich habe diesen Ausdruck nie benutzt und es auch nie so empfunden.“ München habe so viele Facetten: die Kulturstadt, die Stadt der Wittelsbacher, des Sports. Als sie als Studentin aus Passau hierherkam, zur Zeit der Achtundsechziger, erschien ihr München „als Traumstadt, als Abenteuer, als Chance“. Alldem werde das „Millionendorf“ nicht gerecht. Auch sei der Begriff inzwischen etwas angestaubt. Alt ist er allenfalls: Erfunden hat ihn Werner Friedmann, seinerzeit SZ-Chefredakteur, in einem Leitartikel zum 800-jährigen Stadtjubiläum von 1957. 

München überschritt damals die Millionengrenze, Anlass für Friedmann, „einen prüfenden Blick hinter die trügerischen Fassaden“ zu werfen. Sein Urteil fällt ernüchternd aus: Verkehrschaos, Wohnungsnot, Schulunterricht in Schichten. So drohe die Metropole an der Isar, die man einst „mit einer Mischung aus Spott und Stolz das Dorf mit weltstädtischem Anstrich nannte“, zur „Weltstadt mit dörflichem Charakter“ zu verkommen. Friedmann verwendete den Begriff abwertend: Provinz will gerne Weltstadt sein – und bleibt doch Provinz, die ihre Missstände hinter glänzenden Fassaden versteckt. 

Wiesn-Tracht & co: Die Erfindung einer Tradition

Doch das ist nicht die Bedeutung, die hängenblieb, weiß Anna Kurzhals. Die Historikerin hat zum Selbstverständnis Münchens in der Nachkriegszeit promoviert. München, so die neue Lesart, vereine das Beste aus beiden Welten: Boazn und Bohème, Schickeria und Sechziger, Kokain und Kocherlball.

Die Münchner Sitten und Bräuche sind nicht etwa vom Himmel gefallen, betont Kurzhals. Lederhose und Dirndl, heute in der Polyester-Ausführung bei H&M erhältlich, entwickelten sich erst ab den 1980er Jahren schrittweise zum Wiesn-Dresscode – nicht zuletzt dank der Schirmherrschaft Gabriele Weishäupls. Kurzhals liest darin eine konstruierte Tradition; eine invention of tradition, wie es der britische Historiker Eric Hobsbawm nannte. Diese Nostalgie sei auch als Reaktion auf die zunehmende Globalisierung zu verstehen: „Zu viel Moderne überfordert den Menschen vielleicht – man wünscht sich eine imaginierte heile Welt zurück.”

Der bewahrende Charakter spiegelt sich nicht zuletzt in der Architektur. Von der Fassade des Rathauses über die weitläufigen Achsen der Maxvorstadt bis zum Hofgarten – die Kulisse wirkt klassisch, zeitlos. „München hatte schlicht nicht so viele Brüche”, sagt der Architekt Peter Haimerl, „viele historische Strukturen sind noch erhalten.“ Wie viele deutsche Großstädte wuchs München durch Eingemeindungen. Dabei wurden die Dorfkerne zwar bis zur Unkenntlichkeit zerfressen. Nach dem Krieg aber setzte München – anders als etwa Hamburg, Berlin oder Kassel – nicht auf moderne Neugestaltung, sondern auf Restaurierung.

Das Stadtbild wirkt harmonisch, Glasklotze und Betonburgen sucht man im Zentrum vergeblich. Und das ist nicht zuletzt den Münchner Bewohnern zu verdanken: 2004 entschieden sie, dass kein Hochhaus die Spitze der Marientürme überragen darf. Alles, was über der 100-Meter-Marke liegt, versperre die Sichtachsen und zerstöre die Altstadt-Silhouette, hieß es damals. „Unser Bild von Urbanität ist von amerikanischen Städten geprägt, downtowns mit hoher Hochhausdichte“, sagt Haimerl. In Städten wie Frankfurt wurde dieses Modell übernommen, München entschied sich bewusst dagegen.

Der Münchner Eigensinn

Diese etwas nostalgische Selbstbegrenzung wurde zwar in Ausnahmen gelockert, skeptisch sind die Münchner aber noch immer, wenn ihre Stadt in die Vertikale wachsen soll. Zwei geplante Türme an der Paketposthalle sorgen seit Monaten für Diskussionen.

Hier zeigt sich ein gewisser Eigensinn auch bei den Bewohnern. Auf Außenstehende wirkt das oft snobisch-borniert, Mia san Mia-Gehabe. Für Weishäupl ist es schlicht Selbstbewusstsein, das in der Geschichte verwurzelt ist: „Seit dem Herzogtum Bayern gibt es eine hohe Kontinuität – und mittendrin ist München.“ All das zeigt sich im Dialekt und in der Religion, wird durch die Tracht buchstäblich zur Schau getragen.

Freitagabend, fünf nach Acht: Der Neu-Münchner ist auf der Suche nach einem Feierabendbier. Aber die Supermärkte sind zu, die Bordsteine hochgeklappt. Er geht in die nächste Bar – völlig überfüllt, nur noch Platz am Tresen, die Halbe für 6 Euro. Pünktlich um Mitternacht wird die Musik abgedreht, der Wirt schmeißt die Gäste raus. Der Neu-Münchner diskutiert noch vergeblich, bis er beim Blick auf die Uhr bemerkt, dass die letzte U-Bahn gerade gefahren ist. Nach Hause geht es nur noch zu Fuß, verlassene Straßen, die Säulen der Propyläen werfen Schatten. Willkommen im Millionendorf.

Text: Marie-Luise Grauel & Florian Kappelsberger

Beitragsbild: © Foto von Alisa Anton auf Unsplash; Bilder im Beitrag: (1) Gabriele Weishäupl am Oktoberfest (© privat); (2) Peter Haimerl (© Edward Beierle)

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