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Jüdisches Leben in München

Florian Kappelsberger

Ob kulinarisch, kulturell, sportlich oder wissenschaftlich – jüdische Geschichte und Gegenwart begegnen uns an vielen Orten in München. Wir haben uns anlässlich des bundesweiten Jubiläumsjahrs 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland mal genauer angeschaut: Wie gestaltet sich jüdisches Leben in der bayerischen Landeshauptstadt heute?

Herzstück Jakobsplatz

Herzstück des jüdischen Lebens in München ist das Gemeindezentrum am Jakobsplatz in der Altstadt. Dort wurde im Jahr 2006 die Synagoge Ohel Jakob eröffnet, die architektonisch an die Klagemauer in Jerusalem erinnert. Sie ist das Zuhause der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die einer orthodoxen Ausrichtung folgt und heute rund 9500 Mitglieder zählt. Das macht sie zur größten jüdischen Gemeinde der Stadt, neben der liberalen Gemeinde Beth Schalom, die im Jahr 1995 gegründet wurde, und der streng orthodoxen Chabad-Gemeinschaft.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die jüdische Gemeinde vor allem aus Überlebenden der Shoah, ‘Displaced Persons’ und Rückkehrern aus dem Exil. Ab den 1990er Jahren vervielfachte sie sich zahlenmäßig durch die Ankunft von rund 10.000 Jüdinnen und Juden aus der UdSSR. Diese sogenannten ‘Kontingentflüchtlinge’ kamen aus Furcht vor antisemitischer Gewalt oder in der Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Zukunft nach Deutschland, München war dabei eine der wichtigsten Anlaufstellen.

Durch diesen Zuwachs wandelte sich auch die örtliche jüdische Gemeinde: Es wurde etwa der Männerchor Druschba-Chaverut (die russischen und hebräischen Worte für ‘Freundschaft’) gegründet, der vor allem jiddische, hebräische und russische Lieder singt und sich für die Integration der Neuzuwanderer engagiert.

Heute: Vielfalt

In den letzten Jahren sind insbesondere Jüdinnen und Juden aus Israel oder den USA nach München gekommen, die oft einen weniger starken Bezug zur Religion und der Glaubensgemeinde haben. So ist jüdisches Leben in München heute vielfältig – orthodox und liberal, religiös und säkular.

Begegnungsort Jüdisches Museum

Direkt neben der Synagoge steht das das Jüdische Museum, das im Jahr 2007 eröffnet wurde. Die multimediale Dauerausstellung lässt die Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in der Stadt anhand von Bildern, Stimmen und Objekten lebendig werden. Im Moment ist außerdem die Sonderausstellung “Im Labyrinth der Zeiten” zu sehen: Sie ist Mordechai W. Bernstein gewidmet, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Suche nach Überresten der zerstörten deutsch-jüdischen Kultur begab. Daran anknüpfend veranstaltet das Museum den Rundgang “Zeichen in verschiedenen Ruinen und Steinen“, der die Spuren jüdischer Geschichte in der Münchner Altstadt erkundet.

Bernhard Purin, Leiter des Jüdischen Museums, will darin einen Begegnungsort bieten, an dem jüdische Kultur entdeckt werden kann. Zugleich soll auf die Leerstellen in der Vergangenheit aufmerksam gemacht werden: “Im größten Teil der 836 Jahre seit Stadtgründung haben keine Juden in München gelebt.” Die Geschichte jüdischen Lebens in der Stadt ist durch unverhältnismäßig viele Brüche gekennzeichnet: von den Pogromen im Mittelalter bis hin zur Vertreibung im Jahr 1442, von der Vernichtungspolitik des NS-Regimes bis hin zu antisemitischer Gewalt in der Nachkriegszeit.

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Küche und Schule

Ebenfalls am Jakobsplatz lässt sich im Restaurant Einstein die Vielfalt der europäischen, jüdischen und israelischen Küche erleben – ob gefilte Fisch, Wiener Schnitzel oder mediterranes Shakshuka. Alle Gerichte des Restaurants sind dabei den religiösen Vorschriften entsprechend koscher zubereitet. Im Gemeindehaus nur wenige Minuten entfernt ist das Jugendzentrum Neshama untergebracht, wo beispielsweise Musikunterricht, Malworkshops und Nachhilfestunden angeboten werden, sowie die Jüdische Volkshochschule, die Kurse zu jüdischer Küche, Folklore-Tanz oder Hebräisch-Unterricht veranstaltet. Zudem betreibt die IKG einen jüdischen Kindergarten, zwei Schulen und ein Seniorenheim in München.

Fußball, Musik und mehr

Im Sport ist der TSV Maccabi München in verschiedensten Disziplinen aktiv, von Fußball und Tennis bis hin zu Ballett und Krav Maga. Der Verein wurde im Jahr 1965 von Überlebenden der Shoah gegründet und engagiert sich gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.

Im Kulturbereich hat der Dirigent Daniel Grossmann vor rund 15 Jahren das Jewish Chamber Orchestra Munich ins Leben gerufen, das sich als zeitgenössische jüdische Stimme versteht und sowohl deutschlandweit als auch international auf Tournee ist. Am 19. Juli wird es am Gasteig ein feierliches Festkonzert geben, das durch die Jahrhunderte deutsch-jüdischer Musikgeschichte führt. Zudem erwarten uns im Herbst die 35. Jüdischen Kulturtage, bei denen jedes Jahr Musik, Filme und Kunstinstallationen mit Bezug zu jüdischer Kultur und Tradition vorgestellt werden.

Literatur, Vorträge und Studien

Wer mehr über das Judentum lernen will, besucht Rachel Salamanders Literaturhandlung am Jakobsplatz. Darin findet man ein breites Sortiment, ob Romane zeitgenössischer Autor*innen, jiddische Literatur oder Kinderbücher. Zudem veranstaltet die Europäische Janusz Korczak Akademie regelmäßig Vorträge und Seminare zu jüdischer Geschichte und interreligiösem Dialog. Seit 1997 gibt es an der Ludwig-Maximilians-Universität auch einen Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur, der erste seiner Art in Deutschland.

Darüber hinaus finden an der Münchner Volkshochschule verschiedene Vorträge zum Festjahr der 1700 Jahre statt, die Münchner Stadtbibliothek widmet sich in einem Dossier jüdischen Schriftstellerinnen in München. Auch Münchner Podcasts wie diridari.fm und Déjà-Vu Geschichte erforschen die Vergangenheit und Gegenwart jüdischen Lebens in der bayerischen Landeshauptstadt.

Bedrohte Gegenwart

Diese Gegenwart ist allerdings täglich bedroht durch den anwachsenden Antisemitismus, in München wie in ganz Deutschland. Viele Jüdinnen und Juden erleben Anfeindungen im Alltag, zugleich hat die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle im vergangenen Jahr stark zugenommen, wie die bayerische Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) dokumentiert. Besonders Teilnehmer der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen fallen immer wieder durch hetzerische Parolen und relativierende Vergleiche mit der Shoah auf. Zuletzt kam es auch im Zuge des aufflammenden Konflikts im Nahen Osten zu Angriffen auf jüdische Einrichtungen; in Ulm wurde etwa ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt.

Angesichts dieser Entwicklungen hält Bernhard Purin es für vermessen, im Rahmen des Festjahrs von einer neuen Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland zu sprechen. “Solange die Polizei vor der Synagoge steht, ist es keine Normalität”, so der Leiter des Jüdischen Museums. Er hofft, dass die Arbeit von Institutionen wie dem JMM dazu beiträgt, die Zivilcourage und das Engagement in der Gesellschaft zu stärken, um Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit entschieden entgegenzutreten – egal, wo sie auftauchen.


Beitragsbild: Flickr / Heinz Bunse

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