Aktuell, Kennen wir uns?, Kolumnen

Kennen wir uns? Das Problem der zweiten Person

Carina Eckl

Jede*r hat sein eigenes Päckchen zu tragen. Doch was genau sind diese Päckchen eigentlich und warum reden wir so wenig mit unseren Freund*innen darüber? Dieser Frage möchte Carina in ihrer Kolumne Kennen wir uns? nachgehen.


Im Frühling war Black Lives Matter DAS Thema in den Medien. Endlich. Aber es ist einfach, sich über etwas aufzuregen, was vermeintlich auf einem anderen Kontinent passiert.

Was manche vielleicht übersehen, ist, dass es auch in Deutschland Rassismus gibt. Wenn man in einer harmonischen Vorstadt-Bubble lebt, wird er vielleicht nicht thematisiert, aber da ist er trotzdem. Ich habe das Gefühl, BLM ist bei manchen ‚allies‘ schnell wieder out gewesen. So ist es traurigerweise mit vielen Themen. Etwas Schlimmes passiert, man ist schockiert – ach, schau mal, ein Einhorn – und schon ist man wieder im Traumland.

Man könnte sich jetzt die Frage stellen: Warum schreibt eine weiße privilegierte Frau, die von zwei deutschen Bauernfamilien abstammt über Rassismus in Deutschland? Warum schreibt ein privilegiertes Ich über die Diskriminierung eines Du? Warum thematisiere ich die Probleme meines Gegenübers, von denen ich eigentlich nichts verstehen kann? Ist das nicht bevormundend?

Gemeinsam allein sein

Die Wahrheit ist, dass ich lange Zeit nicht mit dem Thema konfrontiert wurde. Ich wuchs wohlbehütet in einer kleinen niederbayerischen Stadt auf – eigentlich in meiner eigenen Traumwelt – zumindest auf den ersten Blick. Ich hatte mehrere Freund*innen, deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland immigriert sind. Allerdings war das, soweit ich weiß, für niemanden im Freundeskreis ein Problem und wurde auch kaum thematisiert – manchmal mit stereotypischen Witzen, von den Betroffenen zum Besten gegeben, beispielsweise über klauende Polen. Man kennt es.

Als ich dann nach München kam, bekam das harmonische Bild meiner Welt, in der alle Menschen sie selbst sein dürfen, Risse. Paradox ist daran, dass ich die Erfahrung gemacht habe, dass Menschen hier auf einer viel tieferen Ebene angenommen werden als in meiner Heimatstadt – und doch wurde mein Horizont in Bezug auf Diskriminierung gerade hier erweitert. Mein inneres nerviges Kind fragt: Aber warum?

In München lernte ich Menschen kennen, mit denen ich auf einer tieferen Ebene sprechen konnte. Es wurde über Literatur, Kunst, Politik, einfach alles diskutiert. Der gemeinsame Nenner ist, dass wir uns in unserer jeweiligen Heimat ‚anders‘ fühlten. Deshalb konnten wir uns einander einfacher öffnen. Ich bin mir sicher, dass sich auch in meiner Heimatstadt manche Menschen so fühlen, aber dort war es nicht so einfach, das auszusprechen. Vielleicht weil gesellschaftliche Normen auf dem Land noch enger gedacht und stärker gelebt werden.

Rassismus geht mich etwas an, auch wenn ich nicht betroffen bin

Mir ist vor kurzem klar geworden, dass auch in Freundschaften, in denen offen kommuniziert wird, manchmal gerade die Themen nicht zur Sprache kommen, bei denen es eigentlich am wichtigsten wäre. Das sagt nicht pauschal etwas Schlechtes über die Freundschaft aus, sondern zeigt vor allem, dass wir in unserer Gesellschaft gelernt haben, manche Themen totzuschweigen. Den Camouflage-Mode einzuschalten.

Das ist der Grund, warum ich an dieser Stelle als weiße privilegierte Frau über Rassismus in Deutschland schreiben möchte. Ich denke, meine Aufgabe als Freundin ist es, die Probleme meiner Freund*innen nicht totzuschweigen. Sie gehen mich etwas an, auch wenn ich nicht betroffen bin.

Betroffene Menschen wandern in unserer Gesellschaft oft auf einem schmalen Grad zwischen: „Ach, so schlimm ist es doch nicht!“ und „Oh, du armes Ding! Du bist mein neues Wohltätigkeitsprojekt für drei Monate und dann vergesse ich, dass Diskriminierung überhaupt existiert.“ Ich habe das Privileg, dass ich über Rassismus sprechen kann, ohne mich persönlich angegriffen zu fühlen – warum sollte ich es also nicht tun?

Diskriminierung ist Alltag

Im Zuge eines Schreibprojekts über Feminismus öffneten sich mir zwei Freund*innen über ihre Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland. Eine der beiden schrieb schon fast essayistisch Erlebnisse auf, von denen ich nichts wusste. Ich fragte mich, warum ich nicht die ganze Geschichte kannte, nur Teile davon.

Sie erzählte davon, dass vor allem ihr Name immer wieder dazu führt, dass sie benachteiligt wird. In einem Bewerbungsgespräch, das ohnehin schon für jeden eine Herausforderung ist, wurde ihr (zugespitzt formuliert) mitgeteilt: Wir haben Ihre Bewerbung erst nicht berücksichtigt, weil sie wegen Ihres Namens im Spam-Ordner gelandet ist, upsi.

Ich denke, die Frage lautet dann nicht: Ist sie gut genug, um bei der Firma zu arbeiten, sondern: Ist die Firma aufgeklärt genug, dass man dort arbeiten möchte?

Die Diskriminierung fing schon im Kindergarten an. Eltern verboten ihren Kindern, mit meiner Freundin zu spielen, weil sie einen ausländischen Namen trägt. Wie soll ein Kind, das gerade erst seine ersten sozialen Erfahrungen macht, richtig beziehungsweise überhaupt mit so etwas umgehen können? Im Kindesalter wird damit ein Lernprozess angestoßen, der ein ganzes Leben dauert. Man stolpert über einen Stein, richtet sich auf und schon wird einem der nächste Stein in den Weg gelegt. Da erscheint der Alman-Spruch „Hinfallen. Aufstehen. Krone richten. Weitermachen“ plötzlich sehr zynisch.

Bewunderung statt Mitleid

In der Schule wurde die Freundin systematisch von einem Lehrer (!) gemobbt. Wegen ihrem Migrationshintergrund wäre sie – nett ausgedrückt – nicht klug genug. Er hat sie spüren lassen, dass sie in Deutschland nicht willkommen ist. Meine Freundin wurde hier geboren. Aber egal, wie oft sie das gesagt hat, ihr wurde nicht zugehört. Es ist schockierend, dass jemand, der ausgebildet wurde, um Kindern zu helfen, seinen Auftrag so drastisch verfehlt.

Ein Name besteht eigentlich nur aus ein paar Buchstaben – sollte er ein Leben lang so viele Schwierigkeiten mit sich bringen? Das erscheint mir frustrierend unverhältnismäßig. Ich denke, man sollte meine Freundin nicht bemitleiden wegen allem, was ihr passiert ist und immer noch passiert. Man sollte sie bewundern. Es braucht mit Sicherheit unglaublich viel Stärke, der Negativität und Grausamkeit von anderen Menschen nicht irgendwann nachzugeben – sich nicht selbst so behandeln, wie es andere tun.

Eins ist sicher: Meine Freundin wurde diskriminiert. Punkt. Daran kann man nichts beschönigen. Als ich ihre Worte gelesen hatte, habe ich versucht, ihr zu zeigen, dass mich ehrlich beschäftigt, was sie erlebt hat. Ihre Antwort darauf war eine riesige Portion lieber Worte, unter anderem: „Niemand weiß das so genau, niemand hat sich wirklich damit beschäftigt – danke, dass du es tust.“

Bittersüß. Ich freue mich, dass unsere Freundschaft daran gewachsen ist und ich bin es mit Sicherheit auch – aber: Für mich war das Gespräch ein Moment in einem Leben, für sie gehören solche Erlebnisse zum Alltag. Und sie fühlt sich damit einsam. Darüber muss gesprochen werden.

Die eigene Traumwelt aufgeben

Denn Diskriminierung ist leider kein neues Thema, weder in den USA noch in Deutschland. Was man in der Debatte darum nicht vergessen sollte: Wenn wir von Diskriminierten sprechen, meinen wir damit reale Menschen – die uns oft näherstehen, als wir es teilweise wissen. Ich habe mich auch schon früher in meiner Heimat über Ungerechtigkeiten aufgeregt. Aber es ist nochmal etwas ganz anders, sie mit konkreten Situationen und Menschen in Kontext zu setzen.

Mittlerweile ist mir klar, dass ich erst einmal aus meiner Traumwelt aufwachen und meine eigenen Privilegien verstehen musste. Dass ich mich mit denen Bereichen auseinandersetzen muss, in denen ich selbst nicht so privilegiert bin, auch wenn es weh tut. Beides hat mir dabei geholfen, zu erkennen, dass ich hinschauen muss, bei mir und bei anderen.

Ich denke, das Problem der zweiten Person löst sich dann auf, wenn man sagt: „DU wurdest diskriminiert und das ist ungerecht“, aber auch gleichzeitig: „Was kann ICH dagegen tun? Wie kann ICH für DICH da sein?“ Die Betroffenen bestimmen, wann und wie über ihre Probleme gesprochen wird. Meine Freundin weiß, dass ich über sie schreibe und dass ich es vor allem FÜR sie tue.


Beitragsbild: © Leonhard Schönstein

No Comments

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons