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Aus unserem Heft: Gesundheit für Alle – Kritische Medizin München kämpft für ein sozialeres System

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München, wo tut’s weh? Auf den ersten Blick glänzt München bei der medizinischen Versorgung. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns spricht sogar von Überversorgung. Gemessen an der Einwohner*innenzahl hat die Stadt einen beachtlichen Versorgungsgrad mit Hausärzt*innen von 115 Prozent.

Ein Arzt auf 1607 Einwohner*innen sollte es grundsätzlich sein für die planmäßige Deckung – laut der bundesweiten Bedarfsplanung. Das spricht für gesunde und gut versorgte Münchner*innen. Vergleicht man aber die verschiedenen Stadtgebiete, zeigen sich deutliche Unterschiede: Während im Lehel 176 Einwohner*innen eine*n Hausärzt*in teilen, sind es in Hadern ganze 2.370. Noch ausgeprägter ist das Ungleichgewicht leider im kindermedizinischen Bereich. In Schwabing-Freimann kommen 898 unter 18-Jährige auf eine*n Kinderärzt*in. In Milbertshofen-Am Hart dagegen sind es ganze 11.450. Mehr als zehnmal so viele.

Ein Münchner Kollektiv, das sich engagiert…

Jemand, der sich mit Missständen wie diesen befasst, ist Amrei von Hofacker. Sie studiert Medizin an der TU München im 8. Semester und beschreibt die Versorgungssituation in München als prekär. Gerade in der Geburtshilfe und der Frauenheilkunde gäbe es einen Versorgungsengpass, sagt sie. Das wird auch sichtbar: In der Stadtmitte reihen sich die Praxen aneinander, während sich in einem Randbezirk wie Milbertshofen 18.501 Frauen eine*n Frauenärzt*in teilen (Stand 2019). Amrei von Hofacker möchte später gerne in einem Umfeld arbeiten, in dem man nach Patient*innenwohl entscheidet und frei von Zeitdruck arbeiten kann. Dazu muss sich aber einiges ändern. Sie engagiert sich seit gut zweieinhalb Jahren beim Kollektiv Kritische Medizin München. Die Gruppe will auf Probleme im medizinischen System aufmerksam machen und sie verbessern. Seit 2019 organisieren sie verschiedene Projekte – zum Beispiel den medizinhistorischen Stadtrundgang durch das Klinikviertel der Ludwig-Maximilians-Universität. Außerdem informieren sie Interessierte über offene und niedrigschwellige Hilfsangebote.

Sozialpolitische Probleme werden im Studium sehr vernachlässigt

Ist die Medizin blind für Gerechtigkeitsfragen? Nadja Rakowitz, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärzt*innen, findet, dass „die sozialpolitischen Probleme, die gesamte Diskussion über gesundheitliche Gleichheit im Studium sehr vernachlässigt wird“. Man müsse schon Glück haben, um mal eine Vorlesung zu Sozialmedizin oder Ähnliches zu hören. Der Zusammenhang von Einkommen, Milieu und Herkunft mit Gesundheit steht nur selten auf dem Lehrplan. Auch die Unterschiede des biologischen Geschlechts werden laut Rakowitz nur langsam in den Blick genommen. Beispielsweise äußern sich Symptome von Krankheiten und die Wirkung von Medikamenten je nach Geschlecht unterschiedlich. Doch das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern fängt schon bei der Belegschaft an und hat Tradition. Vielleicht kommt daher die einseitige Orientierung: „Früher war die Ärzteschaft allgemein sehr männlich. Und je weiter es in der Hierarchie nach oben ging, umso männlicher wurde diese Welt“, sagt sie. Damals gab es kaum Medizinstudentinnen, geschweige denn Chefärztinnen. Heute studieren zwar deutlich mehr Frauen als Männer Medizin, aber in den obersten Hierarchieebenen bilden sich diese Verhältnisse noch nicht ab. Dabei sind insgesamt sogar 80 Prozent der Beschäftigten in Kliniken weiblich.

Ein solidarisches System?

In Deutschland sei das Gesundheitswesen von privaten Interessen geprägt, sagt Rakowitz. Von den Interessen der Eigentümer*innen, der Krankenhausgesellschaften, der Pharmaindustrie. Weil Krankenhäuser über ein Preissystem und unter Konkurrenzbedingungen finanziert sind, müssten sie wie wirtschaftliche Unternehmen arbeiten. Gesetze und nicht der Markt sollten aber die Medizin bestimmen, sagt sie. „Die Bezahlung der Leistungserbringer*innen muss vollkommen entkoppelt von der Frage der medizinischen Entscheidung sein.“ Gerade unsere Arbeitsverhältnisse prägen unsere Gesundheit. Faktoren wie das Einkommen, die Wohnsituation oder Altersarmut wirken sich auf das körperliche Wohlergehen aus. Ein städtischer Bericht aus 2021 spricht von rund 9.200 überschuldeten Senior*innen im Alter von über 70 Jahren. 14.500 leben von der Grundsicherung. Um die Münchner Mietpreise zu stemmen, müssen viele noch im Rentenalter Minijobs annehmen. Diese zusätzliche körperliche und mentale Belastung schlägt auf die Gesundheit. Diese sozialen Ungleichheiten will die kritische Medizin thematisieren und angehen.

Hamburg und Berlin machen’s vor

Das große Ziel von Kritische Medizin München ist es, eine Poliklinik als umfassendes Gesundheitszentrum zu errichten. Dabei geht es nicht nur um medizinische Versorgung, sondern – da beides zusammenhängt – auch um soziale Komponenten, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit. Neben der medizinischen Versorgung sollen dort auch Psychotherapie, Sozialarbeit und juristische Unterstützung unter einem Dach angeboten werden. „Wir wollen die Leute in ihrer Lebensrealität und im Rahmen ihrer Möglichkeiten abholen“, sagt Amrei von Hofacker. Das bedeutet beispielsweise auch bei bürokratischen Hürden zu unterstützen und Menschen ohne Krankenversicherung zu helfen. Ihr Ziel ist es, „ein solidarisches und gerechtes Gesundheitszentrum zu betreiben, das nicht nur Laborwerte, sondern auch die gesamtgesellschaftlichen Ursachen von Krankheiten beleuchtet“. Derzeit arbeitet die Gruppe an einem Konzeptpapier für die Poliklinik. Dieses soll dann der Münchner Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek vorgestellt werden. In Berlin, Hamburg und Leipzig gibt es bereits ähnliche Zentren. In Berlin und Hamburg wurden schon offiziell Kassensitze angemeldet – das heißt, die dort erbrachten Leistungen können über die Krankenkassen der Patient*innen abgerechnet werden, erzählt von Hofacker. Bei der Finanzierung helfen außerdem Spenden und Fördermitgliedschaften. Das Zentrum in Leipzig funktioniert vorerst noch als Beratungszentrum, da dort noch keine der teuren Zulassungen für Kassensitze vorliegen. Und in München? Mit dem Gesundheitszentrum wollen sie keine Parallelstruktur aufmachen, sondern sich mit den sozialen Trägern der Stadt vernetzen, sagt die Medizinstudentin. Auch sie streben die notwendigen Kassensitze an. In fünf bis zehn Jahren könnte es realistischerweise soweit sein, schätzt sie.

Zusammen auf Seminar: Kritische Medizin München ist ein studentisches Kollektiv mit großen Zielen

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Fotos: Kritische Medizin München

Text: Anne Lenz

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