Kultur, Nach(t)kritik

Organisierte Euphorie

Salvan Joachim
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Ein Kilometer Luftlinie, die S-Bahngleise und zwei Wochen Bierdunst trennen die ausklingenden „Hölle, Hölle, Hölle“- Rufe vom Kontrastprogramm: In der Freiheizhalle singt Sophie Hunger. Vom Feinsten – und mit einem kleinen Seitenhieb auf das Oktoberfest.

Nach den ersten Liedern verlässt die Band die Bühne. Allein steht Sophie Hunger vor dem Publikum, im roten Kleid, die Gitarre umgehängt. Den Blick richtet sie fest auf das Stimmgerät am Boden. Sie vermeidet Ansprachen zwischen den Liedern, lässt die Musik und ihre Liedtexte für sich sprechen. Doch sie spürt an der Stille im Saal, dass die Münchner ein paar Worte erwarten.

Eigentlich wollte sie eine Ausstellung im bayerischen Nationalmuseum besuchen: „Mittelalterliche Elfenbeinarbeiten im Dialog“. Sie lächelt, das Publikum lacht. Da das Museum geschlossen war, sei sie eben auf das Oktoberfest gegangen: „Organisierte Euphorie“ nennt sie das Feiern in „Hallen“ mit einer „Art Polizei, die dafür sorgt, dass niemand in den Gängen zwischen den Biertischen stehen bleibt“.

In dieser einzigen kleinen Anekdote, die sie an das Publikum richtet, entlarvt sie die Münchner Wiesnwelt. Sie spielt mit dem Kontrast zwischen Kontrolle und Ausgelassenheit, den jeder Wiesngänger kennt, wenn er überlegt, ob noch eine Mass geht. Noch häufiger als im letzten Jahr verfiel die Wiesneuphorie zum Banalen. Nicht der Überschwang der Gefühle befreit aus der alltäglichen Ordnung. Der Rausch endet in Übelkeit und 2010 noch öfter als zuvor in Einsätzen des Roten Kreuzes.

Jeder im Saal interpretiert Sophie Hungers Worte auf seine Weise. Das ist ihr Konzept. Und es geht auch in jedem ihrer Songs auf. Einige wenige Anschläge am Piano folgen auf das energiegeladene Posaunensolo. Die Dynamik der Band schafft den Raum, den die Zuhörer brauchen. Zum Genießen, zum Nachdenken.

Sophie Hunger schließt ihr Konzert mit dem Song „Train People“. Während der Finanzkrise entstand der Text über das Gefühl der Ohnmacht. Ohnmacht gegenüber der Politik. Ohnmacht gegenüber der eigenen Person.

My love, I cannot feel my teeth
I cannot feel my feet
We’re driving forever now
Why did we leave and how?
Always hungry
And the whistle blows
And it’s blindly running
And everybody knows
It should be stopping
And we should get off
And it will collide but
We’re all tied up

And while we’re passing
The towns are passing
And while we’re passing
The homes are passing
And while we’re passing
Time is passing

Die letzte Zeile steht im Raum und verwirklicht sich in der Reaktion des Publikums. Die Zuhörer halten den Atem an, die Sekunden dehnen sich zu einem ewigen Augenblick. Bis irgendwann zaghaft jemand zu klatschen beginnt.

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