Aktuell, Essen, Nachhaltigkeit
Unterwegs mit Münchner Lebensmittel-Retter*innen
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Seit sieben Jahren rettet Günes Seyfarth ehrenamtlich Lebensmittel, die sonst im Abfall landen würden. MUCBOOK begleitete die Foodsaverin bei einer ihrer Aktionen.
Ein Parkplatz hinter einem Supermarkt im Münchner Osten. Mit schnellen Handbewegungen sortiert Günes Seyfarth genießbares und vergammeltes Obst. Jede Woche fahren sie und ihre Helfer ein oder zweimal die Woche los und sammeln abgelaufenes Obst, Gemüse, Kräuter, aber auch Milch und Joghurt ein und verteilen die Lebensmittel an die Nachbarn, die sie per Whatsapp über ihre Beute informieren.
82 Kilogramm Lebensmittel wirft, laut Greenpeace, statistisch gesehen jeder Bundesbürger pro Jahr weg – 53 davon wären vermeidbar. Das macht umgerechnet ungefähr 230 Euro, die im Müll landen. Bei einer vierköpfigen Familie kommen so rund 940 Euro pro Jahr zusammen. Gegen diese Lebensmittelverschwendung setzt sich die Initiative Foodsharing ein.
Laut den Angaben von Foodsharing wurden seit 2012 41.559.548 kg Lebensmittel erfolgreich gerettet.
Die Foodsharing-Initiative entstand 2012 in Berlin. Mittlerweile zählt sie über 200.000 registrierte Nutzern*innen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und weiteren europäischen Ländern. „Die Idee entstand als Graswurzelbewegung. Da haben sich Menschen zusammengetan und wollten nicht mehr einfach nur zusehen, wie viele Lebensmittel weggeschmissen werden und wollten aktiv was tun. Und sie haben dann angefangen, das mitzunehmen, was andere als Müll betrachten. Wir nehmen das, essen es selber und verteilen es weiter.“
Die Mutter von drei Kindern kam über die Neugier vor rund sieben Jahren zum Foodsharing: „Eine Freundin hatte mir davon erzählt, dass es da eine Gruppe von Leuten gibt, die zu Betrieben gehen und das mitnehmen, dass die wegwerfen würden. Diese Idee fand ich sehr spannend. Ich sage zu jedem, der Foodsaver werden will: man muss sich bewusst sein, dass man dann nie wieder so einkaufen kann wie vorher.” Sie kauft mittlerweile auch anders ein, weil sie immer wieder sieht, wie viel weggeschmissen wird.
„Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie viel das ist.“
Bei der internationalen Initiative drawdown.org haben rund 200 Klimaaktivisten aufgelistet, welche Maßnahmen am besten für das Klima wären. Dabei landet das Eliminieren von Lebensmittelverschwendung auf Platz drei. „Mehr als die Hälfte aller weltweit produzierten Lebensmittel werden weggeworfen,” erklärt mir Günes. „Dessen ist man sich nicht bewusst, wenn man einkauft und dann Sachen vergammeln lässt, weil man sich nicht mit Lagerung und Verarbeitung auskennt. Die wenigsten verstehen, was eigentlich dahintersteckt.“
Der Unterschied zum umstrittenen und gerichtlich verbotenen „Containern“ ist einfach: „Containern ist verboten, weil es dabei keine Vereinbarung mit dem Supermarkt gibt.“ Wer containert, nimmt unerlaubt Eigentum weg. Bei uns weiß der Supermarkt Bescheid, dass wir kommen und gibt uns die Lebensmittel freiwillig.“
Könnte man die Lebensmittel nicht besser an die Tafel spenden?
„Die Tafel verteilt keine Lebensmittel, die abgelaufen sind. Außerdem ist es von den Mengen her zu gemischt für die Tafel. Die müssen ja Tausende von Menschen versorgen, dafür sind die Mengen sind zu klein.”
Im Unterschied zu den Tafeln binden die Foodsaver das Verteilen nicht an die Bedürftigkeit. Bei ihnen können alle sich Lebensmittel abholen: “In jedes Lebensmittel wurde Wasser und Energie reingesteckt, es wurde verpackt, es wurde hierher transportiert, um dann weggeworfen zu werden“, erklärt Günes, während sie die Kisten für die Lebensmittel aufstapelt. „Wir finden es unsinnig, dass diese Energie einfach flöten geht.“ Sie weiß, wovon sie spricht, schließlich hat sie selbst BWL studiert: „Ich habe fünf Jahre lang gelernt zu optimieren und effektiv zu sein und am Ende schmeißen wir das weg. Das kann es doch nicht sein.”
„Was interessanterweise den Leuten am meisten aufstößt, ist das wir die Lebensmittel nicht an Arme geben, sondern bei uns jeder eingeladen ist, das zu essen.“
Aus einem Netz Orangen, das normalerweise komplett weggeworfen wird, sortiert Günes die noch essbaren Exemplare: „Es geht nur um Wirtschaftlichkeit, denn für die Supermärkte ist es zu teuer diese Netze zu öffnen, erklärt Günes. „Was vergammelt oder verschimmelt ist, nehme ich nicht mit, aber alles was noch gut ist wird sofort eingepackt.“ Die Supermärkte sind den Foodsavern dankbar für ihr Tun. „Erstens ist es gut fürs Karma und zweitens ist es gut für die Wirtschaftskosten, weil sie weniger Müllgebühren haben.“
Um Lebensmittelretterin wie Günes zu werden, muss man drei Schritte befolgen. Erstens: sich bei Foodsharing.de registrieren, dann: sich über alle die Regeln des Foodsharing informieren (dazu gibt es dann ein Online-Quiz) und daraufhin geht man drei Mal mit erfahrenen Lebensmittelretter*innen mit bei betreuten Einführungsabholungen.
„Dabei lernt man, sich an verschiedene Regeln zur Lebensmittelsicherheit zu halten. Damit ich weiß, was ich weiter verteilen darf. Oder auch über die Regeln von Foodsharing, das heißt, was will Foodsharing eigentlich? Die absolute Anti-Regel ist dabei natürlich, Lebensmittel wegzuwerfen. Wenn ich Lebensmittel rette, bin ich aufgefordert, sie selbst zu essen oder eben zu verteilen.”
„Das Schöne beim Lebensmittelretten,“ sagt Günes, „ist dass ich aus meiner Komfortzone herauskomme, weil ich gefordert bin, mir zu überlegen, wie ich Lebensmittel haltbar machen kann, beispielsweise durch Einfrieren, Einwecken oder Trocknen. Dadurch, dass man auch Lebensmittel verwertet, die man sonst vielleicht nicht unbedingt kaufen würde, erweitert man auch seinen Speiseplan.”
Auf der Facebookseite „Foodsharing München“ ist jeder eingeladen, mitzumachen – auch wenn er nicht gleich selbst zum Foodsaver werden will. „Man kann sich einfach bei Foodsharing.de anmelden und wenn man beispielsweise am nächsten Tag in den Urlaub fährt und noch zwei Liter Milch übrig hat, kann man online fragen, ob sich jemand die Milch abholen will.”
In Günes’ Verteiler sind viele Familien, die als Vorbilder für ihre Kinder einen nachhaltigeren Lebensstil führen wollen, oder auch aus finanziellen Gründen ein bisschen sparen wollen. “Aber es geht uns in erster Linie nicht darum, Armen und Bedürftigen zu helfen – es geht darum das Klima zu schützen.“
Auch bei Lebensmittelrettung hat die Corona-Krise Auswirkungen.
„Als der Lockdown im Frühjahr kam, gab es zwei, drei Wochen kaum was zum Retten, alle haben gekauft ohne Ende.” Dann habe sich die Situation wieder normalisiert: „Beim zweiten Lockdown hatten wir mehr, weil die Supermärkte besser vorbereitet waren. Insgesamt hat sich das Retten aber kaum gemindert über die vielen Jahre.”
Das Ziel der Lebensmittelretter ist, dass Foodsharing irgendwann nicht mehr nötig wäre. Aber dafür müsste von der Politik auch viel mehr kommen, wie beispielsweise beim Mindesthaltbarkeitsdatum. “Bisher ist es beim Mindesthaltbarkeitsdatum so, dass nach dem Ablauf die Haftung vom Hersteller auf den Händler übergeht,” sagt Günes. „Deswegen geben die Supermärkte die Waren auch oft nicht mehr raus. Außerdem müsste der Gesetzgeber es verbieten, verzehrfähige Lebensmittel einfach wegzuschmeißen, damit im Müll auch nur Müll landet.“
Foodsharing – Mitmachaktion: „Weihnachten aus der Tüte“
Aus dem Lebensmittelretten hat Günes auch ihr Essen für Heiligabend entwickelt, das sie seit einigen Jahren im Pfarrsaal der Mariahilfkirche in der Au organisiert. Dieses Jahr wird das Weihnachtsessen coronabedingt kontaktlos: Alle können sich registrieren, entweder um zu helfen oder um ein Weihnachtspaket zu bekommen. „Es soll nicht nur für Bedürftige sein, sondern für jeden. Ich finde das ganz schlimm, weil bei solchen Aktionen Leute durch diesen Begriff „bedürftig“ so stigmatisiert werden“. Unter dem diesjährigen Motto „Kontaktlos – aber liebevoll” erhält jeder, der sich registriert, eine Weihnachtstüte mit haltbaren Lebensmitteln, einer schönen selbstgeschriebenen Weihnachtskarte und einem Geschenk. „Weihnachten aus der Tüte“ bringt Günes und ihre Helfer am 23. und 24. Dezember zu allen, die sich dafür angemeldet haben.
Fotos: Tobias Wullert