Aktuell, Kunst

Was sagt unser Besitz über uns aus? 6322 – Eine Bestandsaufnahme

Wie viele Mäntel habe ich eigentlich? Vier. Schuhe? Schon schwieriger, kriege ich aber mit ein bisschen Nachdenken noch hin. Aber Ladekabel, Versicherungsdokumente, Kinderzeichnungen? Ich habe keine Ahnung.

Einer, der sich diese Gedanken auch gemacht hat und es ganz genau wissen wollte, ist Frederik Mair. 
Was im ersten Moment wie ein nettes kleines Experiment daher kommt, stellt sich schnell als Mammutaufgabe heraus: der junge Kommunikationsdesigner hat im Rahmen seiner Bachelorarbeit für die Hochschule für angewandte Wissenschaften in München seinen kompletten Besitz dokumentiert, kategorisiert und in einem Buch für uns alle zugänglich gemacht.

An einem kalten, schneereichen Abend steht er mir zu diesem (man kann es nicht anders nennen) Striptease Rede und Antwort…

Du hast also jeden einzelnen Gegenstand den du besitzt, ausgeräumt und fotografiert. Wie kommt man auf so eine Idee?
Frederik: Ausschlaggebend war ein Buch über Marketing, das ich vor circa eineinhalb Jahren gelesen habe. Darin wird beschrieben, wie man Leute dazu bekommt, Dinge zu kaufen, die sie eigentlich gar nicht brauchen. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Welche Dinge habe ich, die ich eigentlich nicht brauche und was sagt mein Besitz überhaupt über mich aus?

frederik_mair

Und dann hast du beschlossen, einfach alles zu fotografieren und zu katalogisieren, was du besitzt?
Nicht so ganz. Zuerst habe ich überlegt, was ein Fremder wohl von meinem Besitz über mich erfahren kann und habe .pdfs mit Fotos von meinem Zimmer erstellt und diese Leuten gegeben, die sie dann Leuten geben sollten, die mich nicht kennen. Es war erstaunlich, wie viel man davon ablesen kann! Jeder hat auf einen Blick herausfinden können, was ich beruflich mache, was meine Hobbys sind, was ich in meiner Freizeit mache. 
Schwieriger einzuschätzen war, ob ich ein geselliger Typ bin, aktuell eine Freundin habe, wie viel ich mit Freunden unternehme. Aber die oberflächlichen Sachen hat man in drei Blicken raus. Da wollte ich es genau wissen und habe mich entschieden, meinen Besitz einmal wirklich unter die Lupe zu nehmen.

6322 Teile hast du. Die alle katalogisieren war vermutlich nicht so einfach. Wie aufwändig war dein Projekt?
Sehr! Zugegeben, ich habe das selbst ganz schön unterschätzt, es gab viele 14-Stunden-Tage und am Ende musste ich noch mal eine 35-Stunden-Schicht einlegen um fertig zu werden…
Ich habe sogar den Speicher meiner Oma durchsucht, aber zum Glück nichts gefunden. Dafür waren aber auf dem Speicher meiner Eltern zwei Kartons mit meinem Namen drauf. Da konnte ich schlecht sagen “Ne, nicht meins!”. Darin fand ich Mappen mit meinen Kinderzeichnungen. Nachdem mein Professor darauf bestand, dass ich jede Zeichnung einzeln fotografiere, machen diese nochmal knapp 1000 Artikel meiner Sammlung aus!
Auch Dinge, die ich hergeliehen habe, sind ja meine und mussten mit aufgenommen werden. Wenn man sich mit dem Thema mal beschäftigt, merkt man schnell, wie viel man eigentlich besitzt.

Und wie fühlt sich das an, wenn man auf einmal genau weiß, wie viel man eigentlich so hat?
Auf der einen Seite ist es ziemlich cool. Auch praktisch, weil wenn ich jetzt ausmisten will, muss ich nur den Katalog durchblättern. Auf der anderen Seite ist es aber auch ziemlich verstörend, zu sehen wie viel man hat. Teilweise habe ich echt sowas wie Platzangst und beim Fotografieren zwischendurch einen richtigen Koller bekommen. Es nahm einfach gefühlt kein Ende.

Aber 6322, wenn man die knapp 1000 Kinderzeichnungen abziehen würde, knapp fünfeinhalb Tausend Teile – ist das denn viel? Wenn ich mal kurz an meinen Haushalt denke… allein sechs Esslöffel, sechs Teelöffel, sechs Espressolöffel… ich glaube, ich wäre schnell bei mehr.
Jetzt hab ich schon genau das erreicht, was ich mit der Arbeit erreichen wollte, du machst dir Gedanken über deinen eigenen Besitz, super!
Aber das ist tatsächlich eine Herausforderung gewesen. Ich wohne noch bei meinen Eltern und da abzugrenzen, was ist meins, was ist Besitz meiner Eltern, war gar nicht so einfach. Ich habe daher beschlossen alles, was ich mal selbst für mich gekauft habe, was ich geschenkt bekommen habe oder von jemandem explizit vermacht bekam, als meinen Besitz anzusehen. Töpfe oder Geschirr, das meine Eltern gekauft haben und besitzen ist also nicht in meinem Buch aufgeführt. 
Und ja, somit hat jemand, der seinen eigenen Haushalt führt, sicher mehr. Zum Vergleich, ein 30- bis 40-jähriger Single hat in Deutschland im Schnitt 10.000 Teile in Besitz.

Das klingt tatsächlich nach ganz schön viel… Braucht man das denn alles?
Ganz klar: nein. Am Ende meiner Arbeit habe ich Resume gezogen. Von den 6322 Dingen, die ich besitze, sind nur 154 im alltäglichen Gebrauch, sprich, ich verwende sie mehr als einmal pro Woche. 261 Dinge dagegen, habe ich noch nie benutzt. 
Außerdem habe ich die “Inventur” auch als Möglichkeit genutzt, auszusortieren. Nachdem zwei Teile verloren, bzw. kaputt gingen, habe ich seit der Inventur neun Dinge verbraucht und 142 Dinge verschenkt oder hergegeben. 551 Dinge, für die ich keine Abnehmer oder weitere Verwendung fand, habe ich weggeschmissen. Somit sind jetzt noch 5203 Dinge übrig.

Abzüglich der 1000 Kinderzeichnungen, die man ja auch deinen Eltern als Besitz “vermachen” könnte, bleiben noch knapp über 4000… Du hast echt nicht so viel.
Ja, aber pass mal auf! Das ist ja nur der analoge Besitz! Eine lange Diskussion in der Uni war dann, was ist mit meinen Daten? Gut, das sind bei einem Designer von Berufswegen wohl automatisch mehr, aber mein Computer umfasst sage und schreibe 219.359 Dateien! Das ist fast 35 mal so viel wie mein analoger Besitz. Tendenz steigend. Ich habe mir das mal angeschaut und seit ich mit elf angefangen habe, Daten auf dem Computer von meinem Vater zu speichern, ist mein digitaler Besitz sprunghaft gestiegen. Und steigt weiter, immer schneller. Allein wenn ich mir die Datenmengen, die diese Arbeit verursacht hat, anschaue…

frederik_mair

Ok, krass. Daran habe ich gar nicht gedacht. Dazu zählen dann auch Dinge wie Musik oder Bücher, die man im e-Format hat…
Genau. Und das sind in meinem Fall tatsächlich ziemlich viele. Ich lege ja auch noch nebenher als DJ auf und ich muss schon zugegeben, das Internet und seine Ein-Klick-Kaufoptionen sind für mich ein ganz ordentlicher Konsumbeschleuniger. Seit ich das vor ein paar Jahren angefangen habe, ist meine Musikdateien- und Plattensammlung beachtlich gewachsen. Und da kann ich mich auch nicht wirklich zurück nehmen. Leider!

Ja, das kann ich ziemlich gut verstehen. Das ist eben so eine Sache mit den Leidenschaften… Aber du hast eingangs erwähnt, dass dich der Gedanke “was sagt unser Besitz über uns aus” zu diesem Projekt inspiriert hat. Dein Schritt, alles zu fotografieren war dabei schon ziemlich radikal. Du hast ja jetzt quasi jedem Betrachter einen Blick in deine Unterwäscheschublade ermöglicht. Wie fühlt sich das denn an, hattest du da keine Bedenken?
Doch schon. Klar. Den Vorschlag meines Professors, die Arbeit als Website zu erstellen habe ich daher auch abgelehnt. Ich würde nie jedes einzelne Teil was ich besitze ins Internet stellen.
Es gibt auch so um die zehn Dinge, bei denen ich echt überlegt habe, ob ich die fotografieren kann, weil mir das peinlich war. Nicht wegen der Dinge selbst, aber in ihrem Kontext.
Dann habe ich mir aber gedacht 6322, die werden jetzt einfach einsortiert und dann mal schauen. Bis heute hat mich noch niemand auf eins der Teile angesprochen. Sie gehen in der Masse einfach unter. Außerdem ist viel eher so, dass jedes einzelne der 6322 Teile ein Beispiel ist. Das habe ich in der Ausstellung unserer Abschlussarbeiten gemerkt. Jeder Betrachter hat das Buch durchgeblättert und sofort abstrahiert und an seinen eigenen Besitz gedacht.
Ob da jetzt die Sachen von Frederik Mair oder irgendwem anders abgebildet sind, hat absolut keine Rolle gespielt. Deswegen ist es auch völlig OK für mich, das so offenzulegen und ich bereue es kein Stück.
Ich würde es aber auch nicht noch mal machen, weil es echt extrem aufwändig war (lacht).

Jetzt ist es ein Jahr her, seit du die Arbeit abgegeben hast. Hat sich dein Konsumverhalten seit dem verändert?
Abgesehen von meinen Musikkäufen: ganz klar ja. Ich überlege jetzt schon viel genauer, ob ich etwas wirklich brauche, ob es das wert ist, Geld dafür auszugeben und was ich genau damit machen werde. Die Bestandsaufnahme hat mich zu einem deutlich bewussteren Konsumenten gemacht. 
So extrem wie manche Minimalisten, auf die ich bei meiner Recherche gestoßen bin, würde ich es aber auch nicht machen. Ich bin definitiv nicht bereit, meine Möbel auf eine Hängematte zu beschränken, um mit nur einem Rucksack umziehen zu können, wie es ein Typ in Berlin macht. Weniger Besitz soll ja befreien, aber wenn ich mich so einschränken würde, wäre das keine Freiheit mehr für mich. Ein bisschen Besitz ist schon OK.

Da kann ich Fredi nur Recht geben, man muss kein Extrem-Minimalist werden, aber sich ein paar Gedanken darüber zu machen, was man hat und was man braucht schadet nicht.
Insofern – danke Frederik!


Leider ist die Arbeit 6322 – Eine Bestandsaufnahme aktuell nicht ausgestellt. Wer Frederik aber tortzdem gern mal live erleben möchte, kann ihn statt dessen als DJ erleben. Dann unter Umständen auch etwas weniger minimalistisch…

16.01. Xcess
20.01 Lola (in Hof, wir werden überregional…)
27.01 Gruam
23.03. Harry Klein

Viel Spaß!

 

(c) Bilder: Frederik Mair

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