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Der Fußball ist tot, lang lebe der Fußball – Derbyhauptstadt München

Yannik Gschnell

Wenn über den Münchner Fußball gesprochen wird, dann in Superlativen. Der FC Bayern München überstrahlt Fußball-Deutschland und sitzt fest in der europäischen Elite. Man könnte fast sagen, dass diese Strahlkraft selbst die Stadt München übersteigt. Der deutsche Fußballprimus existiert neben München, in einer eigenen glänzenden Welt, die auch finanziell in einer eigenen Liga spielt.

„Gegen den modernen Fußball“

Mit einem Blick auf die Spielstätte des FC Bayern lässt sich diese Annahme noch einmal unterstreichen. Erst ist man dem Stadion an der Grünwalder Straße entwachsen, ehe man nach den großen Erfolgen im Olympiastadion, wiederum etwas Größeres, etwas Eigenes suchte und die Allianz Arena plante und schlussendlich umsetzte. Jetzt rollt der Ball genau genommen außerhalb der Stadtgrenzen.

Das spaltet viele Fußballfans und schmälert die Nähe zwischen Stadt und Verein. Viele existentielle Aspekte der Fankultur wurden wegrationalisiert. Statt aus allen Stadtteilen Richtung Stadion zu strömen, quetscht man sich an denselben fünf U-Bahn-Stationen in die überfüllte Bahn, um so gestaffelt anschließend vom Bahnhof zum Stadion zu laufen. Ein mindestens gleich großer Fan-Anteil fährt derweil gleich mit dem Auto, um erst den Stau auf der Autobahn und dann das Chaos des Parkhauses zu bewältigen, ehe man nach und nach direkt vor dem Stadion aus den Katakomben drängt. Erst oben angekommen merkt man, dass es jetzt um Fußball geht und nicht um Achterbahnen oder die neuen Gartenmöbel.

Fußball von der Liebe zur Ware und wieder zurück

Den ehrlichen Münchner Fußball findet man heute in der dritten Liga. Hier gehen Kneipenkultur und Fankultur noch Hand in Hand und am Spieltag vibriert ein ganzes Stadtviertel vor Vorfreude. Seit die Sechziger zurück im Stadion an der Grünwalder Straße und damit zurück in Giesing sind, hat der Verein seine Fans zurückgewonnen. Auch wenn bereits wieder neue Probleme vor der Tür stehen, wurde aus Frust wieder Leidenschaft. Die Szene wurde aus der Schockstarre wiedererweckt. Nach katastrophalen finanziellen Entscheidungen und dem anschließenden sportlichen Verfall ist man zwar nicht tabellarisch, aber zumindest mit dem Herzen wieder da, wohin man sich so lange sehnte.

Wer mit der Vorhersehbarkeit und fehlenden Spannung der ersten Liga hadert, der findet direkt vor der eigenen Haustür in Liga 3 ein Paradies für jeden Fußballpuristen. Enger und unvorhersehbarer könnte eine Liga nicht sein. Zudem erwarten uns in der nächsten Saison gleich vier Stadtderbys: Neben den großen Namen des TSV 1860 München und der Spvgg Unterhaching, die zum Millennium noch gemeinsam im deutschen Oberhaus spielten, sowie den FC Bayern Amateuren, die durch den Meistertitel durchaus souverän die Klasse halten konnten, will sich nun auch noch Türkgücü München behaupten.

Dieser Erfolg kommt natürlich nicht aus dem Nichts. Erst mit dem Einstieg des Investors Hasan Kivran konnte der Türkgücü München e.V. seinen Aufstieg aus der Bedeutungslosigkeit zurück in den Profifußball starten. Anders als bei den Sechzgern, haben wir es allerdings hier mit einem Geldgeber zu tun, der sich nicht nur im deutschen Fußball auskennt, sondern zudem auch selbst beim Vorgängerverein des heutigen Türkgücü spielte, dessen Historie als migrantischer Arbeiterverein bis ins Jahr 1975 zurückgeht.

Im Olympiastadion rollt der Ball wieder

Doch nicht nur ein neuer Player tritt in Erscheinung, auch ein beinahe vergessenes Stück Fußballkultur wird wiederbelebt. In der kommenden Saison darf Türkgücü dank einer Sondergenehmigung der Stadt bis zu acht Heimspiele im Olympiastadion bestreiten. Fünfzehn Jahre nach dem letzten Spiel des FC Bayern München und acht Jahre nach dem letzten Profifußballspiel, dem Endspiel der Women’s Champions League, ist der Fußball zurück an diesem beinahe magischen Ort. Auch wenn sich bereits 2018 die DDR und BRD auf dem Feld begegneten, aber das ist eine andere Geschichte.

In den 33 Jahren nach den Olympischen Sommerspielen 1972 war das Olympiastadion die Kulisse für historische Fußballmomente. Im WM Finale 1974 standen sich die Fußball-Urväter Johan Cruyff und Franz Beckenbauer gegenüber. Der FC Bayern stockte sein Titelkonto um 17 Deutsche Meisterschaften, sieben Pokalsiege und vier europäische Titel auf.

Auch das Finale der ersten Champions League Saison zwischen Olympique Marseille und dem AC Mailand 1993 fand unter dem legendären Zeltdach statt. Abseits dieser mittlerweile fußballhistorischen Partien muss auch eines der letzten Spiele der Bayern im Olympiastadion erwähnt werden, denn im November 2004 war Maccabi Tel Aviv der erste israelische Verein, der nach der Geiselnahme von 1972 als Gast ein Fußballspiel in München bestritt.

Fußballhauptstadt München

Verweilt man in Gedanken bei solchen Fußballfesten, kann die neue Saison gar nicht früh genug starten. Eines ist sicher, Münchner Fußballfans finden sich in der nächsten Spielzeit in einer nie da gewesen fußballerischen Vielfalt wieder. Überall wird gespielt, gehofft und gefeiert werden.

Neben den insgesamt zwölf anstehenden Stadtderbys, werden auch Traditionsvereine wie der FC Kaiserslautern, Hansa Rostock oder vielleicht auch der 1. FC Nürnberg, sollten sie sich am Samstag gegen Ingolstadt wirklich schlecht anstellen, gleich viermal in die Fußballhaupstadt reisen.

Doch zum Fußball in Reinform fehlt für die kommende Saison noch eine essenzielle Zutat: Die Stimmung der Fans im Stadion. Was bringen uns traumhafte Kulissen, wie das Grünwalder oder das Olympiastadion, wenn wir am Ende nur vor dem Fernseher zu schauen können.

Den Plänen des DFB lässt sich entnehmen, dass zumindest zum Saisonstart noch mit Geisterspielen geplant wird. Jetzt liegt es an uns allen, mit aller Sorgfalt und Rücksicht nicht zu früh über die Abschaffung der Coronamaßnahmen zu diskutieren. Die fatalen Auswirkungen einer zweiten Coronawelle dürfen nicht unterschätzt werden. Wir alle wollen etwas Normalität zurück, doch für die Kultur-, Kunst- und eben auch die Fußballindustrie geht es hier um die Existenz. Wenn wir wieder magische Momente im Stadion erleben wollen, müssen wir im Moment lieber erstmal noch eine ruhige Kugel schieben.


Beitragsbild: © Viktoria M.

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