Aktuell, Kultur

Neue Musik aus München, die wir euch ans Herz legen

Wir haben uns durch aktuelle Musik aus München gehört und geben euch wieder einmal ein paar Hörtipps auf die Ohren. Von verspultem House über verträumten Shoegaze bis hin zu Rotwein-getränktem Indie-Pop haben wir viele spannende Sounds und Bands entdeckt. Berücksichtigt wurden Veröffentlichungen aus den letzten paar Monaten und der nahen Zukunft.

Wenn die Vöglein singen: „Le Millipede“ zeigt uns seinen Art(en)-Pop

Beim Timing – für Musiker*innen nicht gerade unerheblich – hat Mathias Götz alias Le Millipede mit seinem Release alles richtig gemacht. Pünktlich zum Frühlingserwachen steht das Doppelalbum des Posaunisten und Vogelexperten in den Läden. Das Besondere: Eine ganze Albumseite ist von gefiederten Musiktalenten intoniert. 17 Vogelstimmen hören wir auf der „Birds“ Seite – benannt je nach der zu hörenden Gattung.

Im ersten Teil des Albums spielt der Multiinstrumentalist (u.a. auch bei Hochzeitskapelle) selbst und legt uns damit ein so eigenwilliges wie beeindruckendes Konzeptalbum vor. Der ein oder andere Wink geht an Musikfreund*innen wie Micha und Markus Acher (The Notwist), Thomas Meinecke oder G.Rag, denen er diese Tracks ursprünglich privat zukommen ließ. Immer wieder klingen Jazz und Folk an – daneben wird viel Raum gelassen für die Sound-Exkursionen von Götz. Kunstvoll und kontemplativ sind diese Klangreisen, die fast sämtlich ohne (menschlichen) Gesang auskommen und von Götz im Alleingang aufgenommen wurden. Musik zum Versinken oder Wegfliegen.

Klingt wie: Ein Spaziergang im Frühling

Reinhören: auf Bandcamp oder Spotify

Gratulation: Le Millipede wurde mit seinem Album gerade für den renommierten „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ nominiert.

Rotwein und Poesie mit „Malva“ – Indie-Pop-Hoffnung aus der Stadt

Bei der Frage nach Vorbildern kann man’s eine Nummer kleiner als „Patti Smith“ halten. Muss man aber nicht. Der jungen Sängerin Malva aus München fliegen gerade viele Herzen und offene Ohren zu. Zwischen Rotweingläsern, Transistorradio und Bohème-Ästhetik entspinnt die gerade mal 21-jährige Sängerin ihre herrlich verträumte Poesie und hat damit auch Trikont-Labelchefin Eva Mair-Holmes überzeugt. Auf deren Label erschien das Debütalbum “Das Grell in meinem Kopf” im November. Spätestens wenn Malva „kandierten Kummer in Zellophan“ einwickelt, wie in der gleichnamigen Single, dann geht ihre Mischung aus Indie-Pop und Chanson voll auf.

Reinhören: „Kandierter Kummer“

Klassische Gitarre von Jonathan Bockelmann („Childish Mind“)

Als Teil des DJ- und Produzenten-Duos Glaskin hat Jonathan Bockelmann auf dem Parkett von IDM, Ambient, Jungle und Techno getanzt. Für sein Solo-Album begibt er sich nun in die Sitzhaltung und legt uns ein astreines Akkustik-Album vor. Seit knapp zwei Jahrzehnten studiert und spielt er nämlich auch klassische Gitarre. Darauf aufbauend entwickelte er für sein Solowerk eine neue kompositorische Linie, die sich in den melodiösen Gitarren-Vignetten von „Childish Mind“ zeigt. Kontemplation statt Krach, Ruhe statt Rhythmen. Vielleicht genau die richtige Platte zum Runterkommen nach einer langen Nacht. Oder als meditatives Gegengift zum Alltagsstress. Die Platte erscheint auf dem Münchner Label Squama Recordings, das auch sonst viele lokale, interessante Projekte irgendwo zwischen Ambient, instrumenteller Musik und zeitgenössischen Formen des Jazz veröffentlicht.

Reinhören: Jonathan Bockelmann – Lihan (Live)

Der Abgang von Groove-Gott „Tom Wu“ („Tom Wu is Dead“)

Szene-Held und Schlagzeug-Virtuose Tom Wu hat seinen Follower*innen kürzlich einen Schreck versetzt, als auf den Social Media Kanälen vom Tod des Künstlers die Rede war. Tom Wu der nächste Musiker im Club 27? Dafür wäre er doch ein paar Jährchen zu alt, wissen wir aus vertraulicher Quelle. Viele fanden die inszenierte Meldung geschmacklos, wie sich in den Reaktionen zeigte.

Ein genauerer Blick verrät, dass es sich hier um Konzept und Titel seines neuen Albums handelt. Der Drummer möchte den Bedeutungsverlust des Künstlers („des Acts“) in Zeiten von Playlists und Algorithmen in den Blick nehmen, heißt es vom Label. Folgerichtig sind die Themen düster-morbide gehalten – eine Adaption von David Bowies letztem Gruß aus dem Diesseits ist etwa mit auf dem Album („Blackstar“).

Tom Wu als Musik-Act wird es also nicht mehr geben. Er hinterlässt uns dieses Album mit seinen Trademarks: treibendes Drumming, griffiges Songwriting und fein in den Rock-Sound eingearbeitete Synthie-Spielereien. Falls das Album doch noch mal live aufgeführt wird, sollte man diese Gelegenheit unbedingt nutzen. Der Sog von Tom Wus Musik entfaltet sich in seiner Performance nochmal ganz neu. Und er ist einfach verdammt tight.

Reinhören: „Tom Wu Is Dead“ auf Spotify

Fun Fact: Tom Wu war Cover-Modell unserer Ausgabe #16

Agitation und Bassgewitter auf dem Debütalbum der „Deutschland GmbH“

Provokation ist auch eine Tugend der Deutschland GmbH. Entwarnung vorweg: der Name ist eher ironisch einzuordnen. Aus dem Umfeld von deren Label/Kollektiv Grauton werden seit einiger Zeit Gabber-Vibes in die Münchner Untergrund-Szene gepumpt, die ästhetisch am Punk und den dunklen Szenen geschult sind. Das kommt gerne mal plakativ, dafür aber unmissverständlich und entschlossen rüber. Musikalisch ist das irgendwo zwischen Punk, Metal, Industrial und Gabber zu verorten. Eine musikalische Romanze, die in den 90er Jahren schon mal Konjunktur hatte und im vorligenden Fall von alten Rammstein-Sachen gar nicht so weit weg ist. Live ein gehöriges, antifaschistisches Spektakel!

Reinhören: Album auf Bandcamp

Genre: Gabba-Metal für Einsteiger und Fortgeschrittene

Mira Mann macht ihre Welt „Weich“

Mira Mann tritt seit vielen Jahren als Musikerin, Lyrikerin und Veranstalterin in München in Erscheinung. Die Songs auf ihrem neuen Album „Weich“ basieren auf einem Langtext, den sie wenige Monate nach der Geburt ihres ersten Kinds verfasst hat (in anderer Fassung auch als „Kontrolle“ als Gedichtband erschienen). In musikalischer Form zerfließen diese intimen und persönlichen Worte über den mal lakonischen und mal versöhnlichen, minimalistischen Synthie-Beats, die immer genügend Raum für die eindringlichen Worte von Mann lassen. So vermengt sich ein Sound aus Spoken Word, Ambient und reduzierter Elektronik. „Die Welt drückt sich durch zu mir, du bringst alles durcheinander“, heißt in der Single Unruhe. In ihrer Musik bringt Mann diese oft harte Welt wieder ein bisschen in Ordnung.

Anschauen: Das Video zu „Unruhe

Trivia: Mit ihrer früheren Band Candelilla hat Mira Mann bei Nirvana-Produzent Steve Albini aufgenommen (das Album „Heart Mutter“)

Hektisch Sprengen DJs – Chiqui Tan (Single)

Hinter dem Moniker „Hektisch Sprengen DJs“ verbergen sich die Münchner DJs und Nachtleben-Legenden Mirko Hecktor und Tom Sprenger. Sie sind zugleich Gründer des Labels Terra Magica, wo ihre neue 7″-Vinyl „Chiqui Tan“ jetzt in einer limitierten Auflage von 250 Stück erschien. Auf der A-Seite hören wir eine südamerikanisch anmutende Electronic-Downtempo-Cumbia-Dub Nummer, die sich nicht scheut, Pop-Ikone Dr. Alban zu samplen. Auf der B-Seite lockt eine aufgemotzte Neuinterpretation vom 90er-Jahre House-Klassiker “Paper Moon” von 51 Days samt einer knusprigen Guiro (eine Art rasselndes Holzinstrument). Herrlich verspult!

Noch mehr raffinierte Grooves finden Tanzfreund*innen auf dem aktuellen Labelsampler CLUB TERRAM mit Sounds irgendwo zwischen Acid, Breakbeat, IDM und Goa.

Reinhören: Chiqui Tan auf Bandcamp

Trivia: Mirko Hecktor ist Herausgeber des (momentan vergriffenen) Standardwerks „Munich Disco“. Preise gebraucht: 200 EUR aufwärts.

Rave: Labelnight bzw. nachträgliche Release Party der „Pulpitos Theme EP“ am Samstag, 25.03, im Unter Deck (u.a. mit Hektisch Sprengen DJs, Los Pulpitos (Dirk Leyers & Felipe Salmón) und Zufu)

Shoegaze in Blau auf der „Berry Frost EP“ von Rambo Kasablanka (New Basement)

Verträumt bis dissoziierend kommt der Dream Pop von Rambo Kasablanka daher. Auf fünf Songs erzählen die jungen Musiker ihre Coming of Age-Geschichten aus dem digitalen Zeitalter. Riecht nach Pop, schmeckt nach Noise heißt es treffend im Beipackzettel. Klare Bezüge für diesen Sound sind die Shoegaze-Bands aus den 90ern, deren Sound gerade eine gewisse Renaissance erfährt und auch in der Münchner Szene beliebt ist.

Rambo Kasablanka ist dabei nur eine von mehreren spannenden Bands aus dem Umfeld vom Kollektiv und Label New Basement, die regelmäßig Konzerte in München veranstalten und Songs aus ihrem Kreis releasen.

Reinhören: EP auf Bandcamp

Nächstes Konzert von New Basement: Rosa Vertov, Stabat Kater und Plainhead (solo) am 25.03.2023 im Import Export

Zwei EPs aus dem Dunstkreis von „Alternative Fakten“

Vom Kollektiv „Alternative Fakten“ gibt’s neben Parties nun auch Musik. Nach den beiden hauseigenen Labelsamplern (2020, 2021 auf Kassette) wurden jetzt die EPs von der Allstar-Band Die Spiiiders und der Combo Die Goldenen 20er auf Vinyl veröffentlicht. Erstere klingen nach (treffende Selbstbeschreibung) Feelgood-Hipster-Reggae. Hier versammeln sich Bandmitglieder von PAAR, Grotto Terrazza und Andor Bencze (ein i für jeden) zu ironischen Songtiteln wie „Vier of the Dark“ oder „Ich bin ein Kaltgetränk, ich wohne im Kühlschrank“. Klingt nach: Instrumententausch im Proberaum und LoFi-Dub-Experimente mit Karaoke-Vibe.

Die Goldenen 20er knüpfen bei den verhallten Elementen der Spiiiders an, schielen aber mehr in Richtung Wave und – entgegen des Bandnamens – 80er Jahre. Nil Neumann und Bruno Haas (beide auch bei Mikroplastik) stellen dabei die wirklich wichtigen Post-Punk-Fragen: Wo ist der ganze Prunk, warum ist die Inzidenz so hoch und wann geben die Bullen endlich Ruhe?

Reinhören: auf Bandcamp oder Spotify (1 | 2)


Blick in die Zukunft:

Avantgarde-Singer-Songwriter Angela Aux bringt bald sein neues Album „Introduction to the Future Self“ heraus, das man unter anderem bei einer Release-Show (oder besser: Theaterinszenierung) in den Kammerspielen hören und sehen kann.

Still hot:

Unter dem Namen Spinnen haben Sophie Neudecker und Veronica Burnuthian (u.a.: Friends of Gas) eine angriffslustige Punk-Combo an den Start gebracht und im Herbst eine giftige EP veröffentlicht. Nicht verwandt oder verschwägert mit den Spiiiders (soweit wir wissen). Nächstes Konzert: am 17. April mit ANNE in der Glockenbachwerkstatt als Vorband von Katrin Sofie F. und der Däne.

Auf INGAs zweiter Platte „Took The Wrong Way Home“ treffen sich wundervolle Melodien mit Loops und Schleifen – mal vom Piano und mal vom Synthie – irgendwo zwischen großem Pop und DIY-Spirit.


Neue Musik nicht nur aus München, aber aus Bayern gibt es regelmäßig in der Playlist „Release Radar Bayern“ von BR PULS.